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Unsere Heilige Ehre
Jack Mars


Ein Luke Stone Thriller #6
„Einer der besten Thriller, die ich dieses Jahr gelesen habe. Die Geschichte ist gut durchdacht und hat einen von Anfang an am Haken. Der Autor hat großartige Arbeit geleistet, Charaktere zu entwerfen, die glaubenswürdig sind – einfach eine Freude. Ich kann die Fortsetzung kaum abwarten.“. –Books and Movie Reviews, Roberto Mattos (über Koste es was es wolle). UNSERE HEILIGE EHRE ist Buch 6 der Bestseller Thriller-Reihe über Luke Stone, die mit KOSTE ES WAS ES WOLLE (Buch 1) beginnt – kostenlos als Download erhältlich und mit über 500 Fünf-Sterne-Rezensionen!Nach einem Angriff von iranischen Terroristen stellt Israel dem Iran ein 72-stündiges Ultimatum: Gebt eure Militärstützpunkte auf, bevor wir sie mit Luftangriffen dem Boden gleich machen. Irans Antwort: Betretet unseren Luftraum und wir werden Nuklearangriffe auf Israel sowie sämtliche US-Militärstützpunkte im Mittleren Osten starten… Mit nur 72 Stunden bis zum nuklearen Armageddon gibt es nur einen Mann, der das Schlimmste verhindern kann: Luke Stone. Die Präsidentin schickt Luke auf seine bisher gewagteste Mission: Ein Fallschirmsprung in den Iran, um das geheime Lager für Atomsprengköpfe zu finden, sodass die USA sie ausschalten können, bevor es zu spät ist… In einem Wettrennen gegen die Zeit führt uns Luke auf eine Achterbahnfahrt durch den chaotischen und verwirrenden Iran, während er versucht, Geheimnisse zu lüften und einen Krieg zu verhindern, der die gesamte Menschheit auslöschen könnte. Doch während sich die Ereignisse nur so überschlagen, stellt sich heraus, dass es vielleicht selbst für Luke Stone bereits zu spät ist… Ein Politthriller mit unablässiger Action, einem dramatischen internationalen Hintergrund und rasender Spannung stellt UNSERE HEILIGE EHRE Buch 6 der Bestseller-Reihe über Luke Stone dar – eine explosive Buchreihe, die den Leser bis spät in die Nacht fesselt. . „Eine Thriller-Erzählung wie von den ganz Großen. Thriller-Fans, die sowohl ein intrigantes und präzise erschaffenes internationales Setting lieben, sowie die Glaubhaftigkeit und psychologische Tiefe eines Hauptcharakters, der gleichzeitig vor professionelle und private Herausforderungen gestellt wird, werden diese fesselnde Geschichte nur schwer aus den Händen legen können.“. –Midwest Book Review, Diane Donovan (über Koste es was es wolle). Buch 7 der Luke Stone Reihe erscheint schon bald.





Jack Mars

UNSERE HEILIGE EHRE




UNSERE HEILIGE EHRE




(EIN LUKE STONE THRILLER—BUCH 6)




J A C KВ В  M A R S




Aus dem Englischen von Simon Dehne



Jack Mars

Jack Mars ist der USA Today Bestseller Autor der LUKE STONE Thriller Serie, welche sieben BГјcher umfasst (und weitere in Arbeit). Er ist auГџerdem der Autor der neuen WERDEGANG VON LUKE STONE Vorgeschichten Serie und der AGENT NULL Spionage-Thriller Serie.



Jack würde sich freuen, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie seine Webseite www.jackmarsauthor.com (http://www.jackmarsauthor.com/) und registrieren Sie sich auf seiner Email-Liste, erhalten Sie ein kostenloses Buch und gratis Kundengeschenke. Sie können ihn ebenfalls auf Facebook und Twitter finden und in Verbindung bleiben!



Copyright © 2020 von Jack Mars. Alle Rechte vorbehalten. Mit Ausnahme der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln vervielfältigt, verbreitet oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Datenabfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen verschenkt werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann geben Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihr eigenes Exemplar. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist ein Werk der Belletristik. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Produkt der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig. Jackenbild Copyright GlebSStock, verwendet unter Lizenz von Shutterstock.com.



BГњCHER VON JACK MARS




LUKE STONE THRILLER SERIE

KOSTE ES WAS ES WOLLE (Buch #1)

AMTSEID (Buch #2)

LAGEZENTRUM (Buch #3)

UMGEBEN VON FEINDEN (Buch #4)

DER KANDIDAT (Buch #5)

UNSERE HEILIGE EHRE (Buch #6)


DER WERDEGANG VON LUKE STONE

PRIMГ„RZIEL (Buch #1)

DER HГ–CHSTE BEFEHL (Buch #2)


EINE AGENT NULL SPIONAGE-THRILLER SERIE

AGENT NULL (Buch #1)

ZIELOBJEKT NULL (Buch #2)

JAGD AUF NULL (Buch #3)

EINE FALLE FГњR NULL (Buch #4)

AKTE NULL (Buch #5)

RГњCKRUF NULL (Buch #6)

ATTENTГ„TER NULL (Buch #7)

KГ–DER NULL (Buch #8)


EINE AGENT NULL KURZGESCHICHTE


„Und zur Stütze dieser Erklärung verpfänden wir alle untereinander in festem Vertrauen auf den Schutz der Göttlichen Vorsehung unser Leben, unser Gut und unsere heilige Ehre.“

В В В В Thomas Jefferson
    Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten






KAPITEL EINS


9. Dezember

11:45 Uhr libanesischer Zeit (16:45 Uhr Eastern Standard Time)

SГјdlibanon



„Gelobt sei Gott“, sagte der junge Mann. „Gelobt sei Er. Gelobt sei Er.“

Seine Hände zitterten, während sie die Zigarette an seinen Mund führten, um einen tiefen Zug zu nehmen. Er hatte seit zwölf Stunden nichts gegessen. Seit den letzten vier Stunden war die Welt um ihn herum pechschwarz. Er war ein gekonnter LKW-Fahrer, der schon die schwierigsten Routen gemeistert hatte. Dieses Mal hatte er die syrische Grenze überquert und war anschließend in der hügeligen libanesischen Landschaft unterwegs, auf engen, sich ständig windenden Straßen, ohne auch nur eine Minute seine Lichter anzuschalten.

Die Fahrt war gefährlich. Der Himmel war voller Drohnen, Hubschrauber, Spionageflugzeuge und Bomber – Russen, Amerikaner und Israelis. Jeder Einzelne von ihnen könnte sich für seinen LKW interessieren. Jeder Einzelne von ihnen könnte sich dazu entscheiden, den LKW zu zerstören. Und keiner von ihnen würde auch nur die geringsten Schwierigkeiten dabei haben. Den ganzen Weg über hatte er damit gerechnet, dass ihn jeden Moment und ohne Vorwarnung eine Rakete abschießen und ihn von einer Sekunde auf die nächste in ein brennendes Skelett, das in einem rauchenden Metallkäfig sitzt, verwandeln würde.

Jetzt hatte er den LKW gerade einen langen, engen Pfad hinaufmanövriert und ihn unter einer riesigen Markise zum Stehen gebracht. Die Markise, die von hölzernen Pfählen gestützt wurde, sah von oben aus wie ein Buschdickicht – in der Tat war das Dach mit einigen echten Büschen bedeckt worden.

Er stellte den Motor aus, der mit Geräuschen antwortete, die nach einem riesigen Ungetüm klangen, das protestierend gleichzeitig rülpste und furzte. Er öffnete die Fahrertür und kletterte hinaus. Noch bevor er einen Fuß auf den Boden gesetzt hatte, tauchten schwer bewaffnete Männer aus den Bäumen auf, die sie umgaben.

„As salaam alaikum“, begrüßte der junge LKW-Fahrer sie, während sie sich näherten.

„Wa alaikum salaam“, antwortete ihr Anführer. Er war groß und kräftig und hatte einen dicken schwarzen Bart und dunkle Augen. Sein Gesicht war verhärtet – Mitgefühl suchte man in ihm vergeblich. Er deutete auf den LKW. „Ist er das?“

Der junge Mann zog erneut an seiner Zigarette. Nein, sagte er fast. Ich habe noch einen anderen LKW mitgebracht. Der hier ist nur zum SpaГџ dabei.

„Ja“, antwortete er stattdessen.

„Du bist spät dran“, sagte der Anführer.

Der junge Mann zuckte mit den Achseln. „Vielleicht hättest du lieber selbst fahren sollen.“

Der Anführer begutachtete den LKW. Er sah aus wie eine typische Sattelzugmaschine – etwas, was vielleicht Holz, Möbel oder Nahrung transportierte. Doch das war nur Tarnung. Der Militärtrupp begann sofort mit der Arbeit. Zwei Männer stiegen die Leiter am hinteren Ende hinauf, weitere zwei knieten sich nieder. Jeder von ihnen hatte einen Akkuschrauber in der Hand.

Sie bewegten sich schnell und entfernten die Schrauben, die die Sattelzugmaschine zusammenhielten. Nach nur wenigen Augenblicken zogen sie ein riesiges Stück Aluminiumblech von der Seite des LKW. Einen Moment später folgte ein kleineres Stück von der Hinterseite. Anschließend widmeten sie sich der anderen Seite, wo der Fahrer sie nicht mehr beobachten konnte.

Er drehte sich um und blickte über die nächtliche Hügellandschaft und die Bäume hinweg. Durch die Dunkelheit konnte er die Lichter eines Dorfes sehen, das nur wenige Kilometer entfernt war. Ein wunderschönes Land. Er schätzte sich glücklich, hier zu sein. Seine Arbeit war erledigt. Er war kein Soldat. Er war nur ein LKW-Fahrer. Sie hatten ihn gut dafür bezahlt, über die Grenze zu fahren und dieses Fahrzeug abzuholen.

Er war nicht von hier – seine Heimat war weiter im Norden. Er wusste nicht, was diese Männer für seine Rückkehr arrangiert hatten und ihm war es auch egal. Jetzt, da er diese Todesmaschine endlich los war, würde er sogar zu Fuß nach Hause wandern, wenn er müsste.

Scheinwerfer näherten sich auf dem engen Pfad, eine ganze Reihe von ihnen. Wenige Sekunden später tauchten drei schwarze Mercedes Geländewagen auf. Die Türen öffneten sich nahezu gleichzeitig und bewaffnete Männer strömten nur so aus den Autos. Sie trugen allesamt schwere Gewehre oder Maschinenpistolen. Die Hintertür des mittleren Wagens öffnete sich als letzte.

Ein korpulenter Mann mit graumeliertem Bart und einer Brille stieg heraus. Er hatte einen knorrigen hölzernen Gehstock und humpelte stark – Verletzungen aufgrund eines Autobombenattentats, das ihn vor zwei Jahren hätte töten sollen.

Der junge Fahrer erkannte den Mann sofort – er war ohne Zweifel der berühmteste Mann im gesamten Libanon und darüber hinaus in aller Welt bekannt. Sein Name war Abba Qassem und er war der absolute Führer der Hisbollah. Seine Autorität – egal, ob es um Militäroperationen, soziale Programme, Beziehungen zu ausländischen Regierungen, die Judikative, Leben oder Tod, ging – war unbestritten.

Dass er hier war, machte den Fahrer nervös. Das Gefühl überkam ihn plötzlich, ein Unwohlsein in der Magengegend, wie eine Lebensmittelvergiftung. Einen Prominenten zu treffen war natürlich immer nervenaufreibend. Aber da war noch mehr. Dass Qassem hier war, bedeutete, dass dieser LKW – oder was auch immer er wirklich sein mochte – wichtig war. Viel wichtiger, als er jemals gedacht hatte.

Qassem humpelte zum LKW-Fahrer herüber. Seine Bodyguards umgaben ihn, während er den Mann umarmte.

„Mein Bruder“, sagte er. „Du bist der Fahrer?“

„Ja.“

„Allah wird dich reich belohnen.“

„Danke, Sayyid“, antwortete er und benutzte dabei den Ehrentitel, der suggerierte, dass Qassem ein direkter Nachkomme von Mohammed selbst war. Er war alles andere als ein frommer Muslim, aber Menschen wie Qassem schienen diese Dinge für wichtig zu halten.

Sie drehten sich gemeinsam um. Die Männer hatten inzwischen die Blechabdeckung des LKW komplett entfernt und das echte Fahrzeug war zum Vorschein gekommen. Der Vorderteil sah größtenteils unverändert aus – die Fahrerkabine einer Sattelzugmaschine, tiefgrün lackiert. Die Ladefläche hatte sich jetzt allerdings in eine flache, zweizylindrische Raketenstartrampe verwandelt. In jedem der beiden Startzylinder befand sich eine große, metallisch silberne Rakete.

Die beiden Teile des LKWs waren getrennt voneinander und wurden von einem Hydrauliksystem sowie zwei Stahlketten auf jeder Seite zusammengehalten. Das erklärte, warum das Fahrzeug so schwierig zu lenken gewesen war – der hintere Teil war gar nicht so fest am Vorderteil befestigt, wie dem Fahrer normalerweise lieb gewesen wäre.

„Transporter und Raketenplattform in einem“, sagte Qassem und verdeutlichte dem Fahrer, was er ihnen gerade geliefert hatte. „Und nur eine von vielen, die der Allmächtige uns beschert hat.“

„Ach so?“, fragte der Fahrer.

Qassem nickte. „Oh, ja.“

„Und die Raketen?“

Qassem lächelte. Er sah glückselig und besonnen aus, wie ein Heiliger. „Äußerst modern. Langstrecke. So präzise wie die besten Raketen der Welt. Stärker als jede, die wir bisher hatten. So Allah will, werden wir unsere Feinde mit diesen Waffen in die Knie zwingen.“

„Israel?“, fragte der Fahrer. Er erstickte fast an diesem Wort. In diesem Moment überkam ihn das Bedürfnis, jetzt sofort den Weg zurück nach Norden einzuschlagen.

Qassem legte eine Hand auf seine Schulter. „Allah ist groß, mein Bruder. Allah ist groß. Schon bald wird alle Welt wissen, wie groß Er wirklich ist.“

Er ging langsam davon und humpelte zur Raketenstartrampe. Der Fahrer beobachtete ihn. Er nahm einen letzten Zug seiner Zigarette, die inzwischen nicht mehr als ein Stummel war. Jetzt fühlte er sich ein wenig besser, ruhiger. Seine Arbeit war getan. Sollten diese Verrückten doch einen weiteren Krieg anzetteln – mit aller Wahrscheinlichkeit würde ihn das im Norden nicht weiter betreffen.

Qassem drehte sich zu ihm um und sah ihn an. „Bruder“, sagte er.

„Ja?“

„Diese Raketen sind ein Geheimnis. Niemand darf von ihnen erfahren.“

Der Fahrer nickte. „Natürlich.“

„Du hast sicher Freunde, eine Familie?“

Er lächelte. „Ja. Eine Frau und drei Kinder. Sie sind noch jung. Meine Mutter ist noch am Leben. Man kennt mich in meinem Dorf und der Umgebung. Seit ich klein bin spiele ich Geige und ich werde ständig nach Vorführungen gefragt.“

Er hielt kurz inne. „Ich habe ein erfülltes Leben.“

Der Sayyid nickte langsam, als wäre er traurig.

„Allah wird dich belohnen.“

Diese Worte gefielen dem Fahrer gar nicht. Es war bereits das zweite Mal, dass Qassem eine Belohnung erwähnt hatte. „Ja. Vielen Dank.“

Die zwei Männer, die Qassem am nächsten standen, nahmen ihre Gewehre von der Schulter. Nur eine Sekunde später hatten sie sie auf den Fahrer gerichtet.

Er konnte sich kaum bewegen. Das alles erschien ihm falsch. Es geschah so schnell. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse. Er konnte seine Beine nicht spГјren. Oder seine Arme. Selbst seine Lippen waren taub. Er Гјberlegte einen Moment, ob er etwas falsch gemacht hatte. Nichts. Er hatte nichts getan. Alles, was er getan hatte, war diesen LKW hierherzubringen.

Der LKW… war ein Geheimnis.

„Wartet“, sagte er. „Wartet! Ich werde es niemandem sagen.“

Qassem schüttelte seinen Kopf. „Der Allwissende hat deine gute Arbeit gesehen. Er wird dir noch heute Abend die Tore zum Paradies öffnen. Das verspreche ich dir. Ich bete für dich.“

Viel zu spät drehte sich der Fahrer um, um wegzurennen.

Einen Augenblick später hörte er das laute Donnern, als die Gewehre ihr Feuer eröffneten.

Und er erkannte, noch während er zu Boden fiel, dass sein ganzes Leben umsonst gewesen war.




KAPITEL ZWEI


11. Dezember

09:01 Uhr Eastern Standard Time

Das Oval Office

Das WeiГџe Haus, Washington, D.C.



Susan Hopkins konnte ihren Augen fast nicht trauen.

Sie stand auf dem Teppich im Sitzbereich des Oval Office – die gemütlichen Stühle mit ihren hohen Lehnen waren für die Festlichkeiten heute Morgen entfernt worden. Dreißig Menschen befanden sich mit ihr im Raum. Kurt Kimball und Kat Lopez waren neben ihr, zusammen mit Haley Lawrence, ihrem Verteidigungsminister.

Die gesamte Belegschaft der Residenz des Weißen Hauses war ebenfalls anwesend. Sie hatte darauf bestanden, dass der Koch, seine Küchenhilfen, sowie das Hauspersonal sich unter die anderen eingeladenen Gäste mischen konnten – die Direktoren der National Science Foundation, der NASA und des National Park Service, um nur einige aufzuzählen. Eine Handvoll Nachrichtensprecher waren ebenfalls hier, zusammen mit zwei oder drei ausgewählten Kameraleuten. Außerdem gab es zahlreiche Secret Service Agenten, die die Wände säumten und in der Menge verteilt waren.

Auf einem großen Fernsehbildschirm, der an einer der Wände angebracht war, legte Stephen Lief, ein Mann, den Susan nie persönlich sehen würde, bis ihre Amtszeit vorbei war, gerade den Amtseid als Vizepräsident ab. Stephen war mittleren Alters, hatte eine runde Brille, die ihm ein eulenhaftes Aussehen verlieh und graue, dünne Haare, die bereits vor langer Zeit damit begonnen hatten, sich von seinem Gesicht zurückzuziehen. Sein Körper sah fast aus wie eine Birne, doch der Dreitausend-Dollar-Anzug von Armani mit blauen Nadelstreifen versteckte diese Tatsache ziemlich gut.

Susan kannte Stephen schon seit Langem. Im letzten Wahlkampf wäre er ihr Konkurrent gewesen, wenn Jeff Monroe nicht dazwischengekommen wäre. Früher, als sie noch im Senat tätig war, war er ihr Gegenstück der anderen Partei gewesen. Er war moderat konservativ, größtenteils unauffällig – stur, aber nicht verrückt. Und er war ein echter Gentleman.

Aber er gehörte auch der falschen Partei an und sie hatte harte Kritik aus der liberalen Ecke dafür einstecken müssen. Er stammte aus einer alten, fast schon aristokratischen Familie – seine Vorfahren waren mit der Mayflower nach Amerika gekommen und damit war er nahezu ein Adliger. Früher hatte es geschienen, als hätte er es als sein Geburtsrecht angenommen, Präsident zu werden. Nicht gerade Susans Typ – hochnäsige Aristokraten neigten dazu, den Zugang zum Volk zu verlieren, dem man eigentlich dienen sollte.

Luke Stone war ihr scheinbar ganz schön unter die Haut gegangen, dass sie Stephen Lief überhaupt in Betracht gezogen hatte. Er war Stones Idee gewesen. Zuerst hatte er ihn fast im Scherz vorgeschlagen, während sie in ihrem großen Präsidentenbett gelegen hatten. Sie hatte laut überlegt, wen sie als Vizepräsident auswählen sollte, als er gesagt hatte:

„Warum nicht Stephen Lief?“

Sie hatte fast laut aufgelacht. „Stone! Stephen Lief? Komm schon.“

„Nein, ich meine es ernst“, hatte er gesagt.

Er lag auf der Seite. Sein nackter Körper war dünn, aber steinhart, wie gemeißelt und übersäht mit Narben. Ein dicker Verband hatte seine noch frische Schusswunde bedeckt. Aber seine zahlreichen Wunden störten sie nicht – im Gegenteil. Sie machten ihn nur begehrenswerter, gefährlicher. Seine dunkelblauen Augen beobachteten sie und ein spitzbübisches Lächeln umspielte seine Lippen. Nicht zum ersten Mal dachte sie bei seinem Anblick an den Marlboro-Mann.

„Du bist wunderschön, Stone. Wie eine antike griechische Statue, die, äh, einen Verband trägt. Aber vielleicht überlässt du das Denken lieber mir. Du kannst dich einfach zurücklehnen, dich weiter räkeln und hübsch dabei aussehen.“

„Ich habe mit ihm gesprochen, als ich auf seiner Farm in Florida war“, hatte Stone geantwortet. „Ich habe ihn gefragt, was er von Jefferson Monroe und dem Wahlbetrug wusste. Er ist ziemlich schnell mit der Sprache rausgerückt. Und er kann gut mit Pferden umgehen. Sanfter Typ. Das muss man ihm doch zugutehalten.“

„Ich werde dran denken“, hatte Susan gesagt, „wenn ich das nächste Mal einen Stallburschen brauche.“

Stone hatte seinen Kopf geschüttelt, ohne sein Lächeln zu verlieren. „Das Land ist gespalten, Susan. Was in letzter Zeit hier passiert ist, hat alles nur noch schlimmer gemacht. Dir geht es vielleicht noch gut, aber der Kongress hat die schlechtesten Umfragewerte der amerikanischen Geschichte. Wenn man den Umfragen Glauben schenken kann, sind die Werte für unsere Politiker, die Taliban und die Church of Satan nahezu gleich. Selbst Anwälte, die Steuerbehörde und die italienische Mafia sind beliebter.“

„Und das erzählst du mir, weil …“

„Weil das amerikanische Volk im Moment möchte, dass rechts und links, Liberale und Konservative, sich ein wenig annähern und Dinge erledigen, die dem Land helfen. Straßen und Brücken müssen repariert werden, unser Bahnsystem gehört schon längst in ein Museum, öffentliche Schulen fallen quasi auseinander und wir haben seit fast dreißig Jahren keinen größeren Flughafen mehr gebaut. Unser Gesundheitssystem ist weltweit auf Platz Zweiunddreißig, Susan. Das ist verdammt niedrig. Kannst du einunddreißig Industrienationen aufzählen, die uns voraus sind? Denn ich kann dir eins sagen, ich bin in schon überall auf der Welt unterwegs gewesen, und ich könnte höchstens einundzwanzig oder zweiundzwanzig zusammenbekommen. Der Rest sind alles Entwicklungsländer und selbst die sind in der Hinsicht besser dran als wir.“

Sie hatte geseufzt. „Wenn uns nur ein paar Konservative zustimmen würden, würde ich vielleicht mein Infrastrukturpaket durchbekommen …“

Er hatte ihr auf die Stirn geklopft. „Jetzt benutzt du langsam dein Köpfchen. Lief war achtzehn Jahre lang im Senat. Er weiß, wie man diese Spielchen spielt.“

„Ich dachte, du interessierst dich nicht für Politik“, hatte sie sich gewundert.

„Tue ich auch nicht.“

Sie hatte ihren Kopf geschüttelt. „Das macht mir ja so Sorgen.“

Er war näher an sie herangerückt. „Keine Angst. Ich zeige dir, was mich eher interessiert.“

„Ach ja?“

„Ein wenig Sport zum Beispiel“, hatte er gesagt. „Mit jemandem wie dir.“

Zurück im Hier und Jetzt schüttelte sie die Erinnerungen ab. Sie lächelte immer noch. Auf dem Fernsehbildschirm sprach Stephen Lief inzwischen die Worte seines Amtseids. Er stand in ihrem alten Arbeitszimmer im Marineobservatorium. Sie erinnerte sich gut an das Haus und dieses Zimmer. Das wunderschöne Gebäude aus den 1850ern mit seinen Türmchen und Giebeln stand auf dem Gelände des Marineobservatoriums in Washington, D.C. Seit Jahrzehnten war es die offizielle Residenz des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten.

Sie hatte den Ausblick aus dem großen Fenster früher ausgiebig genossen, das jetzt auf dem Bildschirm zu sehen war. Aus ihm hatte man eine perfekte Aussicht über die wunderschönen grünen Hügel des Campus des Marineobservatoriums. Nachmittags fiel die Sonne durch das Fenster und sorgte für ein farbenfrohes Spiel aus Licht und Schatten. Fünf Jahre lang hatte sie als Vizepräsidentin in diesem Haus verbracht. Sie hatte es dort geliebt und würde sofort dahin zurückziehen, wenn man es ihr anbieten würde.

Damals war sie nachmittags und abends oft auf dem Gelände des Observatoriums zusammen mit ihren Geheimdienstagenten joggen gegangen. Diese Zeit war voller Optimismus, mitreißender Reden und Treffen mit tausenden von hoffnungsvollen Bürgern gewesen. Heute schienen ihr diese Jahre wie eine Ewigkeit entfernt.

Susan seufzte. Ihre Gedanken wanderten ziellos umher. Sie erinnerte sich an das Attentat am Mount Weather, diese Gräueltat, die sie aus ihrem glücklichen Leben als Vizepräsidentin gerissen und sie in das Chaos der letzten Jahre gestürzt hatte.

Sie schГјttelte ihren Kopf. Nein, danke. Sie wollte jetzt nicht an diesen Tag denken.

Auf dem Fernsehbildschirm waren inzwischen zwei Männer und eine Frau zu sehen, die auf einer erhöhten Plattform standen. Fotografen schwirrten um sie herum wie Stechmücken und machten ein Foto nach dem anderen.

Einer der Männer auf der Plattform war klein und glatzköpfig. Er trug eine lange Robe. Das war Clarence Warren, Oberster Richter der Vereinigten Staaten. Die Frau war Judy Lief. Sie trug einen hellblauen Anzug. Sie grinste über beide Ohren und hielt eine offene Bibel in der Hand. Ihr Ehemann, Stephen, legte seine linke Hand auf die Bibel. Seine rechte Hand war hoch erhoben. Lief wirkte oft mürrisch, aber selbst er lächelte jetzt ein wenig.

„Ich, Stephen Douglas Lief“, sagte er, „schwöre feierlich, dass ich die Verfassung der Vereinigten Staaten nach besten Kräften gegen sämtliche Feinde, ob im In- oder Ausland, schützen und verteidigen werde.“

„Ich schwöre ihr ewige Treue …“, sprach Richter Warren vor.

„Ich schwöre ihr ewige Treue und Gehorsam“, sagte Lief, „und schwöre, dass ich diese Verpflichtung aus freien Stücken annehme und dass ich die Pflichten des Amtes, in das ich hiermit eintrete, nach bestem Gewissen und Glauben ausüben werde.“

„So wahr mir Gott helfe“, sagte Richter Warren.

„So wahr mir Gott helfe“, wiederholte Lief.

Ein Bild tauchte vor Susans innerem Auge auf – ein Geist der noch allzu nahen Vergangenheit. Marybeth Horning, die Person, die als letzte diesen Eid abgelegt hatte. Im Senat war sie Susans Mentorin gewesen, und selbst danach als Vizepräsidentin hatte sie zu ihr aufgesehen. Klein, dünn und mit ihrer großen Brille hatte sie gewirkt wie eine Kirchenmaus, doch sie hatte brüllen können wie eine Löwin.

Und dann war sie erschossen worden, umgebracht wegen … was? Wegen ihrer liberalen Einstellung, könnte man sagen, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Die Menschen, die sie hatten umbringen lassen, hatten sich nicht für politische Differenzen interessiert – alles, um das sie sich geschert hatten, war Macht.

Susan hoffte, dass das Land diese schreckliche Zeit jetzt hinter sich gelassen hatte. Sie sah Stephen auf dem Fernsehbildschirm dabei zu, wie er seine Familie und andere Gratulanten in die Arme schloss.

Vertraute sie diesem Mann? Sie wusste es nicht.

WГјrde er versuchen, sie umbringen zu lassen?

Nein. Vermutete sie. Er war zu rechtschaffen für so etwas. Während ihrer Zeit im Senat hatte sie nie gedacht, dass er versteckte Spielchen spielte. Das war zumindest etwas, dachte sie – einen Vizepräsidenten an ihrer Seite zu haben, der sie nicht umbringen wollte.

Sie stellte sich vor, wie sie von Reportern der New York Times oder der Washington Post interviewt wurde: „Was schätzen Sie besonders an Stephen Lief als Ihren neuen Vizepräsidenten?“

„Nun ja, er wird mich nicht umbringen. Ich schätze, das ist ein ziemlich guter Anfang.“

Kat Lopez war auf einmal neben ihr.

„Ähm, Susan? Sie sollten vermutlich das Wort ergreifen und Vizepräsident Lief gratulieren.“

Susan wachte aus ihren Tagträumereien auf. „Natürlich. Gute Idee. Er kann den Zuspruch wahrscheinlich gebrauchen.“




KAPITEL DREI


23:16 Uhr israelischer Zeit (16:16 Uhr Eastern Standard Time)

Die Blaue Linie, die israelisch-libanesische Grenze



„So gehorche nicht den Ungläubigen“, flüsterte der siebzehnjährige Junge.

Er atmete tief ein.

„Eifere mit dem Koran in großem Eifer gegen sie. Bekämpfe sie; so wird Allah sie durch deine Hand bestrafen und demütigen und dir gegen sie helfen.“

Der Junge war so kampferfahren, wie man nur sein konnte. Mit fünfzehn Jahren hatte er seine Heimat und seine Familie verlassen, um der Armee Gottes beizutreten. Er war nach Syrien gereist und hatte zwei Jahre damit verbracht, in den Straßen, Angesicht zu Angesicht gegen die Apostaten von Daesh zu kämpfen, die die Leute aus dem Westen als den Islamischen Staat bezeichneten.

Die Anhänger von Daesh hatten keine Angst vor dem Tod – im Gegenteil, sie hießen ihn sogar willkommen. Viele von ihnen waren Tschetschenen oder Iraker und nur schwer zu töten. Die Anfangszeit war ein besonders schlimmer Alptraum gewesen, aber der Junge hatte überlebt. In diesen zwei Jahren hatte er zahlreiche Schlachten überstanden und noch mehr Menschen getötet. Und er hatte einiges über den Krieg gelernt.

Jetzt stand er in der Dunkelheit auf einem Hügel im Norden Israels. Er hatte einen Raketenwerfer zur Panzerabwehr auf seiner rechten Schulter. Noch vor wenigen Jahren wäre dieses schwere Geschütz unerträglich gewesen und seine Knochen hätten angefangen zu schmerzen. Aber jetzt war er stärker. Das Gewicht machte ihm nicht mehr viel aus.

Er war von spärlichem Baumbewuchs umgeben. In seiner Nähe war ein Trupp Soldaten, die die Straße unterhalb beobachteten.

„Lasst also für Allahs Sache diejenigen kämpfen, die das irdische Leben um den Preis des jenseitigen Lebens verkaufen“, sagte er leise, fast unhörbar. „Und wer für Allahs Sache kämpft, alsdann getötet wird oder siegt, dem werden Wir einen gewaltigen Lohn geben.“

„Abu!“, flüsterte jemand nachdringlich.

„Ja.“ Seine Stimme war gelassen.

„Sei ruhig!“

Abu atmete tief ein und stieГџ den Atem langsam und kontrolliert aus.

Er war ein Experte im Umgang mit dem Raketenwerfer. Er hatte so viele Male aus ihnen gefeuert, dass seine Genauigkeit inzwischen sehr wertvoll war. Das war eine Sache, die er über den Krieg gelernt hatte. Je länger man am Leben blieb, je mehr Fähigkeiten man sich erarbeitete, desto besser wurde man. Je besser man wurde, desto wertvoller war man und desto wahrscheinlicher war es, dass man einen weiteren Tag überlebte. Er hatte viele gekannt, die es nicht lange geschafft hatten – eine Woche, zehn Tage. Einmal hatte er sogar jemanden kennengelernt, der gleich am ersten Tag getötet worden war. Wenn man aber einmal den ersten Monat hinter sich hatte, dann –

„Abu!“, zischte die Stimme erneut.

Er nickte. „Ja.“

„Bist du bereit? Sie kommen.“

„Okay.“

Er führte die Handgriffe routiniert durch, ganz entspannt, fast, als würde er nur üben. Er hievte den Raketenwerfer hoch und faltete den Ständer aus. Er legte seine linke Hand auf das Rohr und richtete das Visier aus, nur ganz leicht, bis das Ziel in seinem Blickfeld war. Zu schnell zu fest zuzupacken war keine gute Idee. Der Zeigefinger seiner rechten Hand umspielte den Abzug. Er näherte sich mit dem Kopf an das Visier an, blickte aber noch nicht hindurch. Er bevorzugte es, bis zum letzten Moment ein freies Blickfeld zu haben, sodass er die gesamte Situation überblicken konnte. Seine Knie waren leicht gebeugt.

Jetzt konnte er die Scheinwerfer des Konvois sehen, die hinter dem Hügel zu seiner Rechten auftauchten. Sie arbeiteten sich langsam die Straße hinauf. Die Lichter schienen gen Himmel und warfen wirre Schatten. Ein paar Sekunden später konnte er das Rumpeln der Motoren hören.

Er atmete erneut tief ein.

„Ruhig …“, sagte eine strenge Stimme. „Ganz ruhig.“

„Allmächtiger Allah“, sagte Abu und sprach jetzt schneller und lauter als zuvor. „Führe meine Hände und meine Augen. Bring Tod über deine Feinde, in deinem Namen und im Namen deines Propheten Mohammed und aller großen Propheten.“

Der erste Jeep kam um die Kurve. Seine runden Scheinwerfer waren jetzt deutlich zu sehen, wie sie durch den nächtlichen Nebel schnitten.

Der junge Abu spürte das Gewicht des schweren Raketenwerfers jetzt stärker. Er blickte mit dem rechten Auge durch das Visier. Die Fahrzeuge wurden schlagartig größer und erschienen so nah, als könnte er sie anfassen. Sein Finger schloss sich um den Abzug. Er hielt den Atem an. Er war nicht länger nur ein Junge mit einem Raketenwerfer – er und die Waffe verschmolzen zu einem Wesen, zu einer Todesmaschine.

Um ihn herum bewegten sich die Männer wie Schlangen und krochen auf die Straße zu.

„Ruhig“, sagte die Stimme erneut. „Das zweite Fahrzeug, hörst du?“

„Ja.“

In seinem Visier war der zweite Jeep jetzt genau in der Mitte. Er konnte die Silhouetten seiner Insassen sehen.

„Einfach“, flüsterte er. „So einfach … ganz ruhig …“

Zwei Sekunden vergingen, in denen Abu den Fahrzeugen mit dem Lauf des Raketenwerfers folgte, langsam von rechts nach links, ohne zu zittern.

„FEUER!“


* * *

Jetzt kam der Teil ihrer Patrouille, den Avraham Gold am meisten hasste.

Hassen war vielleicht der falsche Ausdruck. Er hatte Angst. Jeden Moment wäre es so weit.

Er redete immer zu viel. Die Worte sprudelten einfach so aus ihm hervor, nur weil er endlich hier wegwollte. Er nahm einen langen Zug von seiner Zigarette – eigentlich war es gegen die Vorschriften, auf Patrouille zu rauchen, aber das war das Einzige, was ihn beruhigte.

„Israel verlassen?“, sagte er. „Niemals! Israel ist meine Heimat, jetzt und für immer. Natürlich würde ich gerne mal ins Ausland, aber auswandern? Wie könnte ich? Gott hat uns gerufen, hier zu leben. Dies ist das Heilige Land. Das Land, das uns versprochen wurde.“

Avraham war zwanzig Jahre alt, ein Unteroffizier der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte, der IDF. Seine Großeltern waren Deutsche, die den Holocaust überlebt hatten. Er glaubte an jedes Wort, das er gerade gesagt hatte. Aber seine Ausrede klang trotzdem hohl, wie ein kitschiger Werbefilm im Fernsehen.

Er saß am Steuer eines Jeeps, der Dritte in einer Kolonne. Er blickte das Mädchen an, das neben ihm saß. Daria. Mein Gott, ist sie hübsch!

Selbst mit ihrem kurz geschorenen Haar, selbst in der nicht gerade vorteilhaften Uniform. Es war ihr Lächeln. Ihr Lächeln erhellte den Himmel. Und ihre langen Wimpern – wie die einer Katze.

Sie war fehl am Platze hier, in diesem … Niemandsland. Besonders mit ihren Ansichten. Sie war eine Liberale. Es sollte keine Liberalen bei der IDF geben, dachte Avraham. Sie waren nutzlos. Und Daria war noch schlimmer. Sie war …

„Ich glaube nicht an euren Gott“, sagte sie nur. „Das weißt du.“

Jetzt lächelte Avraham. „Ich weiß, und wenn du nicht mehr bei der Armee bist, wirst du –“

Sie beendete den Satz für ihn. „Nach Brooklyn ziehen, genau. Mein Cousin hat dort eine Umzugsfirma.“

Er lachte fast laut auf, trotz seiner Nervosität. „Bist du nicht ein bisschen zu dürr dafür, Sofas und Klaviere die Treppen hoch und runter zu tragen?“

„Ich bin stärker als du vielleicht –“

In dem Moment knackte das Radio. „Abel-Patrouille. Bitte melden, Abel-Patrouille.“

Er nahm den Receiver ab. „Abel.“

„Wo steckt ihr?“, fragte die blecherne Stimme.

„Wir kommen gerade in Sektor Neun an.“

„Gerade rechtzeitig. Okay. Haltet die Augen auf.“

„Ja, Sir“, sagte Avraham. Er legte den Receiver auf und blickte Daria an.

Sie schüttelte ihren Kopf. „Wenn die Sache so schlimm ist, warum unternehmen sie dann nichts dagegen?“

Er zuckte mit den Achseln. „So ist das Militär. Sie unternehmen erst etwas, nachdem irgendwas Schreckliches passiert ist.“

Ihr Problem war nur ein wenig weiter. Der Konvoi bewegte sich von Osten nach Westen entlang der engen Straße. Rechts von ihnen befand sich ein dichter Wald – er begann ungefähr fünfzig Meter von der Straße entfernt. Die IDF hatte das Gebiet bis zur Grenze hin gerodet. Wo die ersten Bäume wuchsen, begann der Libanon.

Links von ihnen waren drei steile, grün bewachsene Hügel. Nicht wirklich Berge, aber auch nicht gerade klein. Der Anstieg war abrupt und steil. Die Straße führte um sie herum und für nur einen Moment wäre der Radioempfang gestört und der Konvoi war ungeschützt.

Das IDF-Kommando hatte schon seit einem Jahr über diese Hügel diskutiert. Es musste hier sein. Sie würden den Wald niemals einnehmen können, da er sich im Libanon befand – das würde einen internationalen Konflikt auslösen. Also hatten sie geplant, die Hügel mit Dynamit zu füllen. Danach hatten sie einen Wachturm bauen wollen. Doch beide Pläne waren wieder verworfen worden. Wenn sie die Hügel in die Luft jagen würden, müsste die Straße von der Grenze weg umgeleitet werden. Und ein Wachturm wäre konstant durch mögliche Angriffe bedroht.

Nein, es war das Beste, die HГјgel einfach Tag und Nacht zu patrouillieren und zu beten.

„Halt den Wald im Blick“, sagte Avraham. „Halt die Augen auf.“

Ihm wurde klar, dass er die Worte seines Kommandanten wiederholt hatte. Wie dumm von ihm! Er blickte wieder zu Daria. Ihr schweres Gewehr lag neben ihrer geradezu mageren Gestalt. Sie kicherte und schüttelte ihren Kopf, während ihre Wangen rot wurden.

In der Dunkelheit vor ihnen durchbrach plötzlich ein Blitzlicht die Nacht.

Es flog auf den mittleren Jeep zu, der nur zwanzig Meter vor ihnen war. Der Wagen explodierte, wurde auf die Seite geschleudert und rollte davon. Er brannte und seine Insassen standen bereits in Flammen.

Avraham trat mit aller Kraft auf die Bremsen, aber es war zu spät. Er prallte auf das brennende Fahrzeug auf.

Neben ihm schrie Daria.

Sie hatten sie von der falschen Seite aus angegriffen – von den Hügeln aus. Aber dort gab es doch gar keine Deckung. Es war auf der israelischen Seite.

Er hatte keine Zeit, etwas zu sagen, keine Zeit, Daria einen Befehl zuzurufen.

Jetzt kamen aus beiden Richtungen Schüsse. Maschinengewehrkugeln prallten auf ihre Türen auf. TAK-TAK-TAK-TAK-TAK-TAK. Die Fenster zersplitterten und Scherben prasselten ins Wageninnere. Mindestens eine der Kugeln hatte die Panzerung durchbrochen. Er wurde getroffen. Er blickte an sich herunter – Dunkelheit machte sich in seinem Blickfeld breit. Er blutete. Er konnte es kaum spüren – es fühlte sich wie ein Bienenstich an.

Er grunzte auf. Männer rannten draußen in der Dunkelheit umher.

Bevor er wusste, was er tat, hatte er seine Waffe in der Hand. Er zielte aus dem kaputten Fenster.

PENG!

Das Geräusch war ohrenbetäubend.

Er hatte jemanden getroffen. Er hatte wirklich jemanden getroffen. Der Mann stГјrzte zu Boden.

Er visierte noch einen von ihnen an.

Ganz ruhig …

Plötzlich passierte etwas. Sein gesamter Körper zuckte in seinem Sitz auf. Er ließ seine Waffe fallen. Ein Schuss, etwas Schweres, hatte ihn geradewegs durchbohrt. Es war von hinten gekommen und in das Armaturenbrett eingeschlagen. Eine Kugel, oder vielleicht eine kleine Rakete. Vorsichtig, taub vor Schock, tastete er seine Brust ab und berührte den Bereich unterhalb seines Rachens.

Da war … nichts.

Ein riesiges Loch klaffte in seiner Brust. Wie war es überhaupt möglich, dass er noch lebte?

Eine Antwort bildete sich in seinem Kopf: Es ist bald vorbei.

Er spürte es nicht einmal. Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Er blickte wieder zu Daria. Es war so schade. Er hatte sie überzeugen wollen. Wovon? Das wusste er nicht mehr.

Sie starrte ihn an. Ihre Augen waren kreisrund, wie riesige Teller. Ihr Mund war zu einem stummen Schrei aufgerissen. Er wollte sie trösten, selbst in diesem Moment noch.

„Es ist in Ordnung“, wollte er ihr sagen. „Es tut gar nicht weh.“

Aber er konnte nicht sprechen.

Plötzlich tauchten hinter ihr im Fenster Gestalten auf. Sie schlugen die restlichen Glasscherben des Fensters mit den Läufen ihrer Waffen ein. Hände langten ins Wageninnere und versuchten sie herauszuziehen, aber sie wehrte sich.

Die Tür wurde geöffnet. Drei Männer zerrten jetzt an ihr.

Und dann war sie verschwunden und er war alleine.

Avraham starrte auf das brennende Fahrzeug in der Dunkelheit vor ihm. Ihm fiel auf, dass er keine Ahnung hatte, was mit dem ersten Wagen passiert war. Aber das war ihm im Moment egal.

Er dachte kurz an seine Eltern und seine Schwester. Er liebte sie alle und er verspГјrte kein Bedauern beim Gedanken an sie.

Er dachte an seine GroГџeltern, die vielleicht schon auf ihn warteten.

Er konnte das brennende Fahrzeug nicht mehr erkennen. Alles, was er noch wahrnehmen konnte, war ein helles Rot, Gelb und Orange, das vor einem schwarzen Hintergrund flackerte. Er beobachtete die Farben, wie sie langsam kleiner wurden und verblassten und die Dunkelheit, wie sie sich langsam ausbreitete. Das Inferno des explodierten Jeeps erschien ihm jetzt nur noch wie der Docht einer Kerze, der kurz vor dem Ausbrennen war.

Er beobachtete ihn, bis auch das letzte bisschen Farbe verschwunden war.




KAPITEL VIER


16:35 Uhr Eastern Standard Time

Hauptquartier des Special Response Team

McLean, Virginia



„Nun, ich schätze, damit ist die alte Bande offiziell wiedervereinigt“, sagte Susan Hopkins.

Luke lächelte.

Es war der erste Tag des Special Response Teams in ihrer neuen Unterkunft. Ihr neues Hauptquartier stand auf dem gleichen Gelände wie früher, aber alles war frisch renoviert worden. Das weitläufige, dreistöckige Glasgebäude befand sich in dem reichen Vorort McLean, nur wenige Kilometer von der CIA entfernt. Es war mit einem eigenen Hubschrauberlandeplatz ausgestattet, auf dem ein brandneuer schwarzer Bell 430 bereitstand. Das SRT-Logo blitzte strahlend weiß auf seiner Seite auf.

Vier schwarze Geländewagen standen auf dem Parkplatz. Die Büros befanden sich im Erdgeschoss und im ersten Stock, so wie der hochmoderne Konferenzraum, der dem Lagezentrum im Weißen Haus fast schon Konkurrenz machte. Er war mit jedem technologischen Wunder ausgestattet, das Mark Swann sich erträumt hatte. Der Fitnessraum (mit kompletter Kardioausstattung, Gewichten und einem gut gepolstertem Trainingsring) und die Cafeteria befanden sich im zweiten Stock. Der schalldichte Schießstand war im Keller.

Die neu errichtete Agentur hatte zwanzig Mitarbeiter, die perfekte Größe, um schnell auf brisante Ereignisse reagieren zu können. Sie waren nicht länger Teil des FBI, sondern eine Unterabteilung des Geheimdienstes, wodurch Luke sich nicht mehr mit der staatlichen Bürokratie abgeben musste. Er berichtete nun direkt an die Präsidentin der Vereinigten Staaten.

Das kleine Gelände war umgeben von einem Sicherheitszaun und Stacheldraht. Doch im Moment standen die Tore weit offen. Heute war Tag der offenen Tür. Und Luke freute sich, endlich hier zu sein.

Er schritt stolz mit Susan an seiner Seite durch die Gänge und zeigte der Präsidentin all das, was sie bereits gesehen hatte. Er fühlte sich wie ein Fünfjähriger. Ab und zu blickte er zu ihr herüber, genoss ihre Anwesenheit, passte aber auf, nicht zu sehr zu starren. Er kämpfte gegen den Drang an, ihre Hand zu halten. Sie scheinbar auch, denn ihre Hand strich fast ständig über seinen Arm oder seine Schulter.

All diese Berührungen würden sie sich für später aufsparen.

Luke widmete seine Aufmerksamkeit dem Gebäude. Es war genau so, wie er sich vorgestellt hatte. Seine alten Kollegen hatten alle zugesagt. Das war nicht selbstverständlich gewesen – bei all dem, was sie hatten durchstehen müssen und nachdem Luke sie quasi im Stich gelassen hatte, war es wie ein Geschenk für ihn, dass sie ihm wieder vertrauten.

Er und Susan betraten die Cafeteria und arbeiteten sich durch die Menge, flankiert von zwei Geheimdienstagenten. Mehr als zehn Leute standen am BГјffet an. Am Fenster erblickte Luke die Person, nach der er gesucht hatte. Er stand zwischen Ed Newsam und Mark Swann und wirkte noch kleiner als sonst neben den riesigen Muskeln von Ed und Swann der Bohnenstange. Es war sein Sohn, Gunner.

„Komm, Susan, da vorne ist jemand, den ich dir vorstellen möchte.“

Sie sah plötzlich alarmiert aus. „Warte, Luke! Das ist nicht die richtige …“

Er schüttelte seinen Kopf und packte sie am Handgelenk. „Ist schon in Ordnung. Sag einfach, du bist meine Chefin. Lüg ihn an.“

Sie schritten durch die Menschenmenge und tauchten neben Gunner, Ed und Swann auf. Swann trug sein Haar in einem Pferdeschwanz und hatte seine gewölbte Brille auf. Er hatte ein schwarzes RAMONES T-Shirt an, verblichene blaue Jeans und gelb-schwarz karierte Chuck Taylor Sneakers.

Ed sah in seinem schwarzen Rollkragenpullover, der beigen Anzughose und den schwarzen Lederschuhen riesig aus. An seinem Handgelenk befand sich eine goldene Rolex. Seine Haare und sein Bart waren pechschwarz und fein säuberlich gestutzt.

Swann war für Informationssysteme zuständig – einer der besten Hacker, mit denen Luke je zusammengearbeitet hatte. Ed war Experte in Sachen Waffen und Taktik – er war wie Luke bei der Delta Force gewesen und absolut tödlich. Ed hatte ein Glas Wein in der Hand – im Vergleich zu ihm sah es fast schon lächerlich winzig aus. Swann hatte eine Dose Bier mit einem Piratenlogo in der einen Hand und einen Teller mit mehreren großen Sandwichscheiben in der anderen.

„Hey Leute, ihr kennt doch sicherlich Susan Hopkins?“, sagte Luke.

Ed und Swann schГјttelten ihr nacheinander die Hand.

„Madam President“, sagte Ed. Er musterte sie und lächelte. „Schön, Sie wiederzusehen.“

Luke lachte fast laut auf, als Ed sie von oben bis unten betrachtete. Er raufte Gunners Haar, auch wenn das Gunner gar nicht gefiel – er war inzwischen doch viel zu alt dafür.

„Madam President, das hier ist mein Sohn, Gunner.“

Sie schüttelte seine Hand und setzte einen Blick auf, der sagte: Ich bin die Präsidentin und lerne gerade nur irgendein kleines Kind kennen. „Gunner, schön, dich kennenzulernen. Wie gefällt dir die Party?“

„Ist ganz okay“, sagte er. Seine Wangen wurden knallrot und er blickte sie kaum an. Er war immer noch schüchtern.

„Sind deine Kleinen auch hier?“, fragte Luke Ed und wechselte das Thema.

Ed zuckte mit den Achseln und lächelte. „Oh ja, sie laufen hier irgendwo rum.“

Eine Frau tauchte plötzlich neben ihnen auf. Sie war groß, blond und sehr einnehmend. Sie trug einen roten Anzug und hochhackige Schuhe. Erstaunlicher noch als ihr Outfit war, dass sie sich direkt an Luke wandte und die Präsidentin der Vereinigten Staaten vollkommen ignorierte.

Sie hielt ein Smartphone in seine Richtung, als wäre es ein Mikrofon.

„Agent Stone, mein Name ist Tera Wright und ich arbeite für WFNK, den Nummer Eins Radiosender in D.C.“

Luke lachte bei ihrer Vorstellung fast auf. „Hi, Tera“, sagte er. Er erwartete, dass sie ihn nach der Neueröffnung des Special Response Teams fragen würde und ihrer Aufgabe, den Terrorismus sowohl im In- als auch im Ausland zu bekämpfen. Natürlich würde er ihr nur zu gerne davon erzählen.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Nun“, fing Tera an, „wie ich sehe, ist die Präsidentin hier bei der großartigen Eröffnung Ihrer Agentur.“

Luke nickte. „Natürlich ist sie das. Ich denke, dass die Präsidentin weiß, wie wich–“

Die Frau fiel ihm ins Wort. „Könnten Sie mir wohl eine Frage beantworten?“

„Natürlich.“

„Stimmen die Gerüchte?“

„Ähm, mir ist nicht ganz klar, welche –“

„Sie sind schon seit einigen Wochen im Umlauf“, informierte ihn Tera Wright.

„Gerüchte worüber?“, fragte Luke. Er blickte sich um, wie jemand, der am Ertrinken war und panisch nach einem Seil suchte.

Tera Wright hob die Hände, als wollte sie sagen „Schluss mit Lustig.“ „Lassen Sie es mich anders ausdrücken“, sagte sie stattdessen. „Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Präsidentin Hopkins beschreiben?“

Luke blickte Susan an. Sie ließ sich allerdings nichts anmerken. Sie war ein alter Hase in diesem Geschäft. Sie wurde weder rot, noch sah sie besonders schuldig aus. Sie hob nur eine Augenbraue und starrte die Reporterin verwirrt an, als hätte sie keine Ahnung, wovon sie da redete.

Luke atmete durch. „Nun ja, ich würde sagen, dass Präsidentin Hopkins meine Chefin ist.“

„Mehr nicht?“, bohrte die Reporterin nach.

„Mehr nicht“, sagte Luke. „Sie ist meine Oberbefehlshaberin.“

Er blickte erneut zu Susan und erwartete, dass sie nun etwas sagen würde, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Stattdessen war Susans Stabschefin jetzt hier, Kat Lopez. Sie hatte einen körperbetonten blauen Nadelstreifenanzug an. Kat war immer noch dünn, auch wenn ihr Gesicht längst nicht mehr so jugendhaft war, wie noch vor einigen Jahren, als sie den Job angenommen hatte. Drei Jahre Stress hatten ihre Wirkung deutlich gezeigt.

Sie flГјsterte leise in Susans Ohr.

Susans Gesicht verdüsterte sich, während sie ihr zuhörte. Schließlich nickte sie. Was auch immer sie erfahren hatte, es waren keine guten Neuigkeiten.

Sie blickte sich um.

„Gentlemen“, sagte sie. „Ich muss mich leider entschuldigen.“






KAPITEL FГњNF


18:15 Uhr Eastern Standard Time

Das Lagezentrum

Das WeiГџe Haus, Washington, D.C.



„Amy“, sagte Kurt. „Zeig uns den Libanon und Israel. Zoom auf die Blaue Linie.“

Auf dem übergroßen Bildschirm hinter ihm tauchte eine Karte auf. Eine Sekunde später zeigten auch die kleineren Bildschirme, die in die Wand eingelassen waren, das gleiche Bild. Auf der Karte waren zwei Territorien zu sehen, die von einer dicken, blauen Linie getrennt waren. Links von der Landmasse befand sich ein blassblauer Bereich, der das Mittelmeer kennzeichnete.

Susan kannte diese Gegend gut genug, dass sie eigentlich auf diese Erdkundelektion verzichten konnte. Sie war frustriert – sie war bereits seit einer Stunde im Weißen Haus. Es hatte ungewohnt lange gedauert, dieses Meeting zu organisieren.

„Ich werde mich kurzfassen, wenn alle damit einverstanden sind“, sagte Kurt. „Ich schätze, dass alle Anwesenden soweit auf dem Laufenden sind, dass sie bereits wissen, dass es vor knapp zwei Stunden einen Schlagabtausch an der Grenze zwischen dem Libanon und Israel gegeben hat.

„Die Blaue Linie, die man hier sieht, ist die Grenze, die 1982 zwischen dem Libanon und Israel vereinbart wurde und hinter die Israel seine Truppen nach dem Krieg und der anschließenden Besetzung zurückgezogen hat. Eine bisher unbekannte Anzahl Hisbollah-Kämpfer hat eine israelische Patrouille auf der Straße angegriffen, die entlang der Blauen Linie führt. Die Patrouille bestand aus acht Soldaten der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte. Bis auf eine Soldatin wurden sie alle getötet.“

Ein Foto einer dunkelhaarigen jungen Dame erschien auf den Bildschirmen. Es sah aus wie ein Foto, was für ein Schuljahrbuch aufgenommen worden war, oder für eine Art Preisverleihung. Das Mädchen lächelte fröhlich. Sie strahlte förmlich.

„Daria Shalit“, stellte Kurt vor. „Neunzehn Jahre alt und am Anfang ihres zweiten Jahres im Pflichtwehrdienst für die IDF.“

„Ganz schön hübsch“, sagte jemand.

Kurt reagierte nicht. Er seufzte schwer.

„Glauben Sie mir, Israel hat einige harte Diskussionen hinter sich. Vor ein paar Monaten wurde nun entschlossen, dass auch Frauen an den Grenzpatrouillen teilnehmen können. Es scheint, als wäre dieser Vorfall eine geplante Entführung von Shalit gewesen, oder von einer beliebigen jungen Dame, die auf Patrouille ist. Ein Angriffstrupp hat die Kidnapper bis über die Grenze verfolgt, ist aber zwei Kilometer Inland auf eine starke Opposition getroffen. Weitere vier Israelis wurden getötet, zusammen mit schätzungsweise zwanzig Militanten der Hisbollah.“

„Helena von Troja“, sagte ein Mann in einer grünen Militäruniform.

Kurt nickte. „Ganz genau. Die Auswirkungen auf die Gesellschaft Israels waren beeindruckend. Es war wie ein Schlag in die Magengrube für sie, was vermutlich auch der Plan war. Unseren Informationen zufolge versucht die Hisbollah einen Krieg anzuzetteln, ähnlich dem, der 2006 stattgefunden hat. Wir denken, dass sie Israel in eine Falle locken wollen.“

„Die Hisbollah ist ganz schön hart drauf“, sagte der Uniformierte. „Es ist schwer, sie zu bekämpfen.“

„Amy“, sagte Kurt. „Die Hisbollah, bitte.“

Auf dem Bildschirm erschien ein Bild einer Gruppe von Männern, die mit erhobenen Bannern und Fäusten durch die Straßen marschierten. Kurt zeigte mit dem Laserpointer auf sie.

„Hisbollah – die Partei Gottes, oder die Armee Gottes, je nachdem, welche Übersetzung man bevorzugt – ist die weltweit größte und militärisch stärkste Terrororganisation. Sie wurden als Handlanger der iranischen Regierung gegründet und werden von ihr ausgebildet, finanziert und eingesetzt, mit Einsätzen in ganz Europa, Afrika, Asien und beiden amerikanischen Kontinenten.

„Wenn es um Terrorismus geht, ist die Hisbollah äußerst fähig. Unter schiitischen Muslimen wird sie weltweit anerkannt. Die Einsätze, die sie auf die Beine stellen können und die Organisation, die hinter ihnen steht ist genau das, was der IS sich für die Sunniten erträumt. In den Gegenden Libanons, in denen die Hisbollah Hoheitsterritorium besitzt, agieren sie häufig als de facto Regierung mit der vollkommenen Anerkennung der Bevölkerung. Sie betreiben Schulen, sorgen für Nahrung und Freizeit- sowie Arbeitsprogramme. Außerdem entsenden sie eine Handvoll gewählter Repräsentanten in das libanesische Parlament. Ihre Militärabteilung ist viel effektiver und auch stärker als das libanesische Militär. Aufgrund der religiösen Differenzen zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen sind die Hisbollah und der IS verfeindet und haben einander geschworen, den jeweils anderen zu zerstören.“

„Und was ist so schlimm daran?“, fragte Susan halb im Scherz. „Der Feind unseres Feindes ist unser Freund, oder nicht?“

Der Anflug eines Lächelns machte sich auf Kurts Lippen breit. „Vorsicht. Die Hisbollah hat einen zeitlich unbegrenzten Heiligen Krieg gegenüber unseren Verbündeten in Israel ausgerufen. Laut der Hisbollah ist Israel eine existenzielle Bedrohung für die libanesische Gesellschaft und Palästina und muss mit allen Mitteln zerstört werden.“

„Und wie stehen ihre Chancen dafür?“, fragte Susan.

Kurt zuckte mit den Achseln.

„Sicher könnten sie Schaden anrichten, den wir nur schwer einschätzen können. Unseren derzeitigen Annahmen zufolge hat die Hisbollah zwischen fünfundzwanzig und dreißigtausend Kämpfer. Vielleicht zehn bis fünfzehntausend von ihnen haben bereits Kampferfahrung, entweder aus dem Krieg im Jahre 2006 oder aus direkten Konflikten mit dem IS im syrischen Bürgerkrieg. Wir glauben, dass bis zu zwanzigtausend der Truppen Ausbildung von der Iranischen Revolutionsgarde erhalten haben – fünftausend oder mehr sind sogar in den Iran gereist und wurden dort direkt trainiert.

„Die Hisbollah hat ein weites Netzwerk tiefer Tunnel und Befestigungen in der Hügelregion nördlich der Blauen Linie. Während des Krieges 2006 konnte Israel dieses Netzwerk nicht vollständig aus der Luft zerstören. Laut israelischer Geheimdienstinformationen sind ihre Anlagen heutzutage nur noch tiefer, verstärkter und ausgeklügelter als damals. Unsere eigenen Informationen besagen, dass die Hisbollah mehr als fünfundsechzigtausend Raketen und Flugkörper besitzt, außerdem Millionen Schuss an Munition für kleinere Feuerwaffen. Ihr Arsenal ist seit 2006 vermutlich um das Fünffache gewachsen. Seit den Anfängen der Hisbollah war der Iran stets zögerlich, wenn es um ihre Versorgung ging und hat ihnen nur langsame Kurzstreckenraketen zur Verfügung gestellt. Wir vermuten, dass dem immer noch so ist.“

„Und was unternimmt Israel?“, fragte der Mann in der grünen Uniform.

Kurt nickte. Hinter ihm auf dem Bildschirm tauchte die Blaue Linie wieder auf. Südlich von ihr erschienen kleine Symbole, die Soldaten repräsentierten.

„Nun kommen wir zum Eigentlichen. Die Israelis haben eine massive Einmarschtruppe an der Grenze versammelt. Unser Staatssekretär hat bereits mit dem israelischen Premierminister, Yonatan Stern, telefoniert. Yonatan ist ein Betonkopf, um es freundlich auszudrücken. Er ist besonders im rechten politischen Spektrum der israelischen Gesellschaft beliebt. Um diese Beliebtheit aufrecht zu erhalten, muss er etwas unternehmen. Er braucht einen entscheidenden Sieg, die Rückkehr ihrer entführten Soldatin – irgendetwas. Wir nehmen an, dass er die versammelte Truppe irgendwann in den nächsten Stunden über die Grenze schicken wird, was eine Invasion des Libanons darstellen würde.“

„Auf der anderen Seite könnte man sagen, dass Israel bereits vom Libanon attackiert wurde“, sagte der Uniformierte.

Kurt nickte. „Könnte man. Gleichzeitig mit der Invasion plant Stern Bombenangriffe zu fliegen. Wir haben von ihm verlangt, dass die Bombardierungen auf zwölf Stunden begrenzt werden, zivile Ziele meiden und nur bekannte Militärstützpunkte der Hisbollah anfliegen.“

„Was hat Yonatan dazu gesagt?“, fragte Susan. Yonatan Stern war nicht gerade ihr Lieblingsmensch. Man könnte sogar behaupten, dass sie sich nicht verstanden.

„Er hat gesagt, er würde unseren Rat in Betracht ziehen.“

Susan schüttelte den Kopf. „Yonatan ist genau wie jeder andere Mann. Er hat nichts lieber als Krieg und große Waffensysteme.“

Sie zögerte. Das alles schien ihr wie nur ein weiterer Schlagabtausch zwischen Israel und der Hisbollah, genau so wie die ganzen kleinen Gefechte zwischen Israel und der Hamas oder Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation davor. Hässlich, blutig, brutal und am Ende ohne wirkliches Resultat. Nur eine weitere Trainingsrunde für die nächste Trainingsrunde.

„Also, was unternehmen wir hier, Kurt? Was sind die Risiken und wie, schlagen Sie vor, sollen wir reagieren?“

Kurt seufzte. Sein kahler Kopf reflektierte die Lichter an der Decke. „Wie immer besteht die Gefahr, dass die Gefechte außer Kontrolle geraten und andere regionale Kämpfe verursachen. Die Hisbollah und Palästina sind Verbündete. Die Hamas nutzt solche Kriege der Hisbollah häufig als Deckmantel für ihre eigenen Guerillaangriffe in Israel. Syrien liegt im Chaos und hat verschiedene kleine, aber schwer bewaffnete Gruppen, die jede Instabilität ausnutzen wollen.

„In der Zwischenzeit stehen die großen Spieler, der Jordan, Ägypten, die Türkei und Saudi-Arabien Israel feindlich gegenüber. Und natürlich gibt es da immer noch den Iran, der größte und gemeinste Kerl in der Nachbarschaft. Sie stehen mit verschränkten Armen bedrohlich im Hintergrund, mit den noch größeren Russen hinter ihnen. Jeder der eben genannten ist natürlich bis zu den Zähnen bewaffnet.“

„Also lautet unser nächster Schritt?“

Kurt schüttelte den Kopf und zuckte mit den Achseln. „Wir sollten vorsichtig sein. Die gesamte Region ist ein einziges Minenfeld und wir müssen aufpassen, wo wir hintreten. Israel ist einer unserer engsten Verbündeten und ein wichtiger strategischer Partner. Sie sind die einzige Demokratie, die in der gesamten Region herrscht. Gleichzeitig ist auch der Libanon unser langjähriger Partner. Der Jordan und die Türkei sind unsere Verbündeten. Wir beziehen den Großteil unserer ausländischen Stromversorgung aus Saudi-Arabien. Außerdem sind wir ein Abkommen eingegangen, dass wir den Frieden zwischen den Palästinensern und Israel schützen wollen und Palästina als souveränen Staat fördern.“

Er nickte, wie um sich selbst zu bestätigen. „Ich würde sagen, unsere Aufgabe lautet, die Lage nicht noch weiter eskalieren zu lassen und darauf zu hoffen, dass diese ganze Sache in ein paar Tagen schon wieder vorbei ist – oder noch besser, in ein paar Stunden.“

Susan lachte fast laut auf. „Anders ausgedrückt sollen wir also Däumchen drehen.“

Jetzt lächelte Kurt. „Wir drehen Däumchen. Momentan sind uns sowieso die Hände gebunden.“




KAPITEL SECHS


12. Dezember

13:40 Uhr israelischer Zeit (06:40 Uhr Eastern Standard Time)

Tel Aviv, Israel



Die Nachrichten waren schlimm gewesen.

Die junge Frau saß auf einer Parkbank und sah ihrem jungen Sohn und ihrer Tochter, Zwillingen, dabei zu, wie sie auf der Schaukel spielten. Nicht weit von ihnen entfernt befand sich der beige, sechzehnstöckige Apartmentblock, in dem sie wohnten. Heute war niemand sonst hier und der Park war so gut wie leer.

Das war ungewöhnlich für einen so schönen Frühlingsnachmittag, aber kaum überraschend, wenn man die Umstände bedachte. Der Großteil der Bevölkerung schien sich in seinem Wohnzimmer aufzuhalten und saß wie festgeklebt vor Fernseh- und Computerbildschirmen.

Gestern Abend war Daria Shalit, eine neunzehnjährige Soldatin der Israelischen Verteidigungskräfte, nach einem Schlagabtausch mit Hisbollah-Terroristen, die einen Überraschungsangriff entlang der nördlichen Grenze gestartet hatten, verschwunden. Die anderen sieben Soldaten ihrer Patrouille – allesamt Männer – waren während des Gefechts ums Leben gekommen. Aber nicht Daria. Daria war einfach verschwunden.

IDF-Truppen hatten die Terroristen bis in den Libanon hinein verfolgt. Vier weitere Israelis waren während der Kämpfe dort umgekommen. Elf junge Männer – das Beste, was die israelische Jugend zu bieten hatte – waren innerhalb einer Stunde gestorben. Aber das war es nicht, was das Land momentan beschäftigte.

Das Schicksal Darias war im Laufe der Nacht geradezu fieberhaft von der Bevölkerung verfolgt worden. Wenn die junge Frau ihre Augen schloss, konnte sie Darias hübsches Gesicht und ihre dunklen Augen vor sich sehen. Sie lächelte und hatte ein Maschinengewehr in der Hand. Sie posierte mit Freunden an einem Mittelmeerstrand, grinste, während sie ihr Abschlusszeugnis erhielt. So wunderschön und immer mit einem Lächeln auf ihren Lippen, als wäre ihre Zukunft zum Greifen nah.

Die Frau schloss jetzt tatsächlich ihre Augen und ließ Tränen ihre Wangen herunterströmen. Sie hob eine Hand zum Gesicht, sodass ihre Kinder nicht mitansehen mussten, dass sie weinte. Ihr Herz schmerzte wegen eines Mädchens, das sie niemals selbst kennengelernt hatte und doch so gut zu kennen schien, als wenn Daria ihre eigene Schwester gewesen wäre.

Die Zeitungen riefen nach blutiger Rache und verlangten die vollständige Auslöschung des libanesischen Volkes. In der Knesset, dem Parlament Israels, hatte es im Laufe der Nacht hitzige Debatten gegeben und die Regierung hatte Drohungen ausgesprochen und die Rückkehr des Mädchens verlangt. Noch hatte es keine Handlungen gegeben, aber es war spürbar, dass sich eine Wut stärker und stärker aufbaute, die irgendwann zu explodieren drohte.

Vor wenigen Stunden hatten die Bombardierungen begonnen.

Israelische Kampfflieger lieГџen wahre Bombenteppiche Гјber dem SГјdlibanon, dem Hauptsitz der Hisbollah und bis in den Norden nach Beirut nieder. Jedes Mal, wenn es im Fernsehen eine weitere AnkГјndigung gab, schrien und jubelten die Nachbarn der Frau in ihren Wohnungen.

„Tötet jeden Einzelnen von ihnen!“, schrie ein alter Mann voller Triumph. Seine raue Stimme war durch die dünnen Wände klar zu hören. „Tötet sie alle!“

Danach hatte die Frau ihre Kinder raus zum Spielen gebracht.

Jetzt saß sie hier im Park, weinte leise vor sich hin und ließ alles raus, während sie den Geräuschen und Gesprächen ihrer Kinder lauschte. Sie waren so unschuldig und doch würden sie von Feinden umgeben aufwachsen, die es nur zu gerne mit ansehen würden, wie man ihnen die Kehle durchschnitt und sie ausbluten ließ.

„Was sollen wir nur tun?“, flüsterte die Frau. „Was sollen wir nur tun?“

Die Antwort kam in Form eines neuen Geräuschs, zuerst leise und weit weg, das sich unter die Spielgeräusche ihrer Kinder mischte. Doch schon bald kam es näher und wurde lauter, immer lauter. Es war ein Geräusch, das sie nur zu gut kannte.

Luftschutzsirenen.

Sie riss die Augen auf.

Ihre Kinder hatten aufgehört zu spielen. Sie starrten sie über den Spielplatz hinweg an. Die Sirenen waren inzwischen laut.

Unglaublich laut.

„Mama!“

Sie sprang von ihrer Bank und lief zu ihren Kindern. Unter ihrem Wohnkomplex war ein Luftschutzbunker – nur einen Viertelkilometer entfernt.

„Lauft!“, schrie sie. „Lauft nach Hause!“

Ihre Kinder rührten sich nicht. Sie rannte auf sie zu und sammelte sie auf. Dann lief sie los, je ein Kind unter einem Arm. Sie hätte niemals gedacht, dass sie so eine Kraft in sich hatte. Sie sauste über den Beton, ihre Kinder weinten jetzt laut, doch die Sirenen um sie herum waren lauter und wurden noch immer lauter.

Ihre Atmung schnappte.

Das Gebäude türmte sich über ihnen auf und sie kamen immer näher. Überall liefen Menschen, die bis vor wenigen Minuten noch unsichtbar gewesen waren, auf das Gebäude zu.

Plötzlich ertönte noch ein weiteres Geräusch – ein Geräusch, das so laut, so hoch war, dass die Frau dachte, dass ihr Trommelfell geplatzt wäre. Sie blickte auf und sah mit an, wie eine Rakete aus Richtung Norden über den Himmel flog. Sie schlug mit aller Wucht in die oberen Stockwerke ihres Gebäudes ein.

Der Erdboden unter ihren Füßen bebte vom Aufprall. Die Welt um sie herum schien sich zu drehen, während die oberen Stöcke des Gebäudes in einer riesigen Explosion verschwanden. Beton flog durch die Luft. Wie viele Menschen waren noch in ihren Wohnungen gewesen? Wie viele von ihnen waren jetzt tot?

Sie verlor das Gleichgewicht und ihre Kinder fielen auf den Boden. Sie krabbelte zu ihnen, schützte sie mit ihrem Körper, genau in dem Moment, als die Schockwelle auf sie auftraf. Dann folgte ein Hagel aus Schutt von der Explosion, winzige Steinchen und Splitter, ein Staub, der sie zum Würgen brachte, die Überreste der Alten und Bedürftigen, die ihre Wohnungen nicht rechtzeitig hatten verlassen können.

Die Sirenen hörten nicht auf. Der ohrenbetäubende Schrei einer weiteren Rakete heulte auf. Sie flog über ihre Köpfe hinweg und eine weitere Explosion zeigte an, dass sie ihr Ziel gefunden hatte.

Die Sirenen kreischten weiter und weiter.

Ein weiteres Mal ertönte das Geräusch einer Rakete. Es pfiff durch ihre Ohren. Die Härchen auf ihrer Haut stellten sich auf. Sie zog ihre Kinder näher an sich heran. Das Geräusch war zu laut. Sie konnte es nicht einmal mehr begreifen. Es war, als ginge es über ihr Gehör hinaus, als wäre es ein Monster aus einer anderen Welt – ihr Verstand schaltete sich bei seinem Anblick einfach ab.

Zusammen mit der Rakete schrie die Frau auf, doch es schien, als würde sie kein Geräusch von sich geben können. Sie konnte nicht nach oben schauen. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie fühlte einen Schatten über sich, wie er das Tageslicht verdeckte.

Dann blitzte ein neues Licht auf, ein blendendes Licht.

Und danach nur Dunkelheit.




KAPITEL SIEBEN


06:50 Uhr Eastern Standard Time

Die Residenz des WeiГџen Hauses

Washington, D.C.



Das morgendliche Licht strömte durch die Jalousien, aber Luke wollte noch nicht aufstehen. Er lag auf dem Rücken in dem großen Bett und sein Kopf ruhte auf einem Berg Kissen.

Susan lag unter der Decke neben ihm. Die Präsidentin der Vereinigten Staaten lag mit ihrem Kopf auf seiner Brust und ihr kurzes blondes Haar strich über seine nackte Haut. Er bemerkte ein paar graue Strähnen, die ihr Stylist wohl übersehen hatte. Oder vielleicht war es Absicht gewesen – einem Mann verlieh ein wenig Grau Erfahrung, Seriosität, Gravitas.

Sie atmete tief ein und aus.

„Bist du schon wach?“, flüsterte er.

Er spürte, wie sie lächelte. „Natürlich, du Dummerchen. Ich bin schon seit über einer Stunde wach.“

„Woran denkst du?“, fragte er.

„Woran denkst du? Das ist hier die Frage.“

„Naja, ich mache mir Sorgen.“

Sie stellte ihre Ellenbogen auf, drehte sich um und sah ihn an. Wie immer verging ihm der Atem aufgrund ihrer Schönheit. Ihre Augen waren blassblau und in ihrem Gesicht konnte er die junge Frau sehen, die vor zwanzig Jahren die Titelseiten verschiedener Modemagazine geziert hatte. Für ihn schien es, als würde sie umgekehrt altern. Das konnte er schwören – in der kurzen Zeit, in der sie zusammen gewesen waren, schien sie jeden Tag ein wenig jünger zu werden.

Ihr Mund verzog sich zu einem leichten Lächeln und ihre Augen zeigten spielerisches Misstrauen. „Luke Stone macht sich Sorgen? Der Mann, der mit nur einem Handschlag ganze Terrornetzwerke auslöschen kann? Der Mann, der despotische Herrscher und Massenmörder noch vor dem Frühstück erledigt? Worüber könnte sich so eine Legende denn bitte Sorgen machen?“

Er schüttelte seinen Kopf und lächelte untypischerweise. „Genug damit.“

Um ehrlich zu sein, machte er sich sogar einige Sorgen. Die Dinge wurden langsam kompliziert. Er war ernsthaft darauf aus, seine Beziehung zu Gunner wieder geradezubiegen. Es lief auch gut – besser, als er gehofft hatte – aber Gunners Großeltern hatten immer noch das Sorgerecht. Luke dachte, dass das vielleicht besser so war. Ein Rechtsstreit um das Sorgerecht mit Beccas reichen und gehässigen Eltern – das würde sich lange hinziehen und sehr unangenehm für sie alle werden. Und was hätte er am Ende davon? Luke war schließlich immer noch im Spionagegeschäft. Wenn er tatsächlich zu ihm ziehen würde, würde Gunner nur ständig alleine sein. Ohne Aufsicht, ohne jemanden, der ihn erziehen konnte – das schien nicht besonders gut für ihn.

Außerdem war da noch die Lage mit Susan. Sie war die Präsidentin der Vereinigten Staaten. Sie hatte eine eigene Familie und streng genommen war sie immer noch verheiratet. Ihr Ehemann, Pierre, wusste natürlich von Luke und war angeblich sogar glücklich für sie. Aber trotzdem hielten sie ihre Beziehung geheim.

Was wollte er sich vormachen? Sie hielten nichts daran wirklich geheim.

Ihr persönliches Sicherheitsteam wusste von ihm – das war schließlich ihr Job. Und das hieß, dass es wahrscheinlich ein Gerücht war, das sich bereits im gesamten Geheimdienst verbreitete. Zwei, drei Mal die Woche ging er spät abends noch durch den Sicherheitscheck. Oder meldete sich nachmittags als Gast an, meldete sich dann aber nicht mehr ab. Die Mitarbeiter, die die Videokameras überwachten, sahen, wie er die Residenz betrat und verließ und schrieben stets mit. Der Koch wusste, dass er Essen für zwei Personen zubereitete und die beiden Hausmädchen, die das Essen brachten, zwei nette ältere Damen, die ihn stets anlächelten, mit ihm plauderten und ihn „Mr. Luke“ nannten, kannten ihn natürlich auch.

Susans Stabschef wusste es, was bedeutete, dass Kurt Kimball es wahrscheinlich auch wusste, und weiГџ Gott, wen es noch alles gab.

Jede einzelne dieser Personen hatte eine Familie, Freunde und Bekanntschaften. Susan und er hatten Stammlokale, in denen sie frühstückten, zu Mittag aßen oder Bars, in denen sie sich regelmäßig aufhielten und die Stammgäste mit Geschichten aus dem Weißen Haus unterhielten.

Die Frage der Reporterin am Vortag lieГџ darauf schlieГџen, dass das GerГјcht bereits auГџer Kontrolle geraten war. Sie waren nur eine undichte Stelle, einen Anruf eines unzufriedenen Mitarbeiters bei der Washington Post oder bei CNN von einem ausgewachsenen Medienzirkus entfernt.

Das wollte Luke nicht. Er wollte nicht, dass Gunner ins Rampenlicht rГјckte. Er wollte nicht, dass sein Junge rund um die Uhr von einem Geheimdienstagenten begleitet werden musste. Er wollte nicht, dass Paparazzi ihm auflauerten oder vor seiner Schule auf ihn warteten.

AuГџerdem wollte Luke selbst die Aufmerksamkeit nicht. Es war besser fГјr seinen Job, wenn er in den Schatten blieb. Er brauchte genug Freiheiten, um seine Missionen durchzufГјhren. AuГџerdem war da noch sein Team.

Und schlussendlich natГјrlich Susan selbst. Er wollte nicht, dass ihre Beziehung so auf die Probe gestellt werden wГјrde. Es war ohnehin schon nicht einfach und er konnte sich nicht vorstellen, dass sie lange durchhalten wГјrden, wenn die Medien sie rund um die Uhr unter die Lupe nahmen.

Aber es war unmöglich, diese Probleme mit ihr zu besprechen. Sie war unglaublich optimistisch, sie war sowieso ständig in den Medien und ihr gefiel die Aufmerksamkeit sogar. Ihre Antwort war stets ein sorgloses: „Ach, das schaffen wir schon irgendwie.“

„Worüber machst du dir Sorgen, Mr. Luke?“, fragte Susan jetzt.

„Ich mache mir Sorgen …“, fing er an. Er schüttelte seinen Kopf. „Ich mache mir Sorgen, dass ich mich verliebe.“

Ihr strahlendes Lächeln erhellte das Zimmer. „Ich weiß“, sagte sie. „Ist es nicht toll?“

Sie küsste ihn hingebungsvoll und sprang dann wie eine Jugendliche aus dem Bett. Er beobachtete sie, während sie nackt durch den Raum zu ihrem Kleiderschrank schlenderte. Sie sah immer noch aus, als wäre sie in ihren Zwanzigern.

Zumindest fast.

„Ich möchte, dass du meine Töchter kennenlernst“, sagte sie. „Sie kommen nächste Woche und bleiben über Weihnachten.“

„Wundervoll“, sagte er. Beim Gedanken daran drehte sich ihm der Magen um. „Was sollen wir ihnen sagen, wer ich bin?“

„Sie wissen, wer du bist. Du bist ihr Superheld. James Bond, nur ohne die Glattrasur oder den schicken Anzug. Ich meine, es ist erst ein paar Jahre her, dass du Michaelas Leben gerettet hast.“

„Wir wurden einander nie wirklich vorgestellt.“

„Egal. Du bist so was wie ein Onkel für sie.“

In dem Moment fing das Telefon auf dem Nachttisch an zu klingeln. Es machte ein seltsames Geräusch, weniger ein Klingeln, sondern eher ein Summen, oder ein Brummen. Es klang wie ein erkälteter Mönch, der in seiner Meditation sang. Außerdem leuchtete es bei jedem Geräusch blau auf. Luke hasste dieses Telefon.

„Soll ich rangehen?“, fragte er.

Sie lächelte und schüttelte ihren Kopf. Er beobachtete, wie sie zurück durch das Zimmer ging. Einen kurzen Moment lang stellte er sich eine Welt vor, in der sie beide einen anderen Job hatten. Vielleicht sogar eine Welt, in der sie gar nicht arbeiten mussten. In dieser Welt könnte sie einfach zurück zu ihm ins Bett steigen.

Sie nahm den Hörer ab. „Guten Morgen.“

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, während sie der Stimme am anderen Ende der Leitung zuhörte. Ihr Lächeln verschwand. Auch das Licht in ihren Augen verdunkelte sich. Sie atmete tief ein und seufzte lang und ausgiebig.

„Okay“, sagte sie. „Ich bin in fünfzehn Minuten unten.“

Sie legte auf.

„Ärger?“, fragte Luke.

Sie sah ihn mit einem Ausdruck an – vielleicht ein Hauch von Angst – den die Bevölkerung niemals im Fernsehen zu sehen bekommen würde.

„Wann gibt es mal keinen Ärger?“, seufzte sie.




KAPITEL ACHT


07:30 Uhr Eastern Standard Time

Das Lagezentrum

Das WeiГџe Haus, Washington, D.C.



Der Aufzug Г¶ffnete sich und Luke betrat das ovale Lagezentrum.

Der große Kurt Kimball stand am anderen Ende des Raums. Seine Glatze strahlte im Licht und er erkannte Luke sofort. Kurt führte diese Meetings normalerweise mit einer eisernen Hand. Er hatte so ein tiefes, scheinbar intuitives und nahezu enzyklopädisches Wissen über das Weltgeschehen, dass ihm jeder ohne irgendwelche Fragen gehorchte.

„Agent Stone“, begrüßte er ihn. „Danke, dass Sie so früh hier sein konnten.“

Hörte er da einen Unterton in seinen Worten, vielleicht sogar Sarkasmus? Luke entschied sich, darüber hinwegzusehen.

Er zuckte mit den Schultern. „Die Präsidentin hat mich angerufen. Ich bin hergekommen, so schnell ich konnte.“

Er sah sich im Lagezentrum um.

Dieser Raum war ultramodern und viel mehr als nur ein simpler Konferenzraum – die Einrichtung war so optimiert, den vorhandenen Platz so gut es ging auszunutzen. Bildschirme waren alle paar Meter in die Wände eingelassen und eine riesige Leinwand hing am anderen Ende des Konferenztisches. Auf dem Tisch selbst befestigt befanden sich Tabletcomputer und kleine Mikrofone – sie konnten, wenn nötig, eingefahren werden, falls jemand sein eigenes Gerät verwenden wollte.

Jeder gepolsterte Ledersessel am Tisch war heute besetzt – Luke erspähte einige uniformierte Generäle sowie Beamte in teuren Geschäftsanzügen. Die meisten Anwesenden waren mittleren Alters und übergewichtig – Regierungsmitarbeiter, die viel Zeit in solchen gemütlichen Stühlen verbrachten und gerne ausgiebig aßen. Die Stühle sahen allesamt aus wie Kapitänssessel eines Raumschiffs, das gerade quer durch die Galaxie fliegt. Übergroße Armlehnen, gepolsterte Lederbezüge, hohe Rückenlehnen, ergonomisch korrekt und mit Lendenstütze.

Die Sitze entlang der Wände – kleinere, rot gepolsterte Stühle – waren voll mit jungen Assistenten und Assistentinnen, die Kaffee aus Plastikbechern schlürften, Nachrichten auf ihren Tablets eintippten oder leise in ihre Handys murmelten.

Susan saß in einem Ledersessel an Lukes Ende des Lagezentrums. Sie trug einen blauen Nadelstreifenanzug. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen und hörte gerade einem jungen Assistenten zu. Luke versuchte, sie nicht anzustarren.

Nach einem kurzen Moment sah sie auf und nickte ihm zu.

„Agent Stone“, sagte sie. „Danke, dass Sie gekommen sind.“

Luke nickte. „Madam President. Natürlich.“

Kurt klatschte in seine riesigen Hände, als ob Lukes Ankunft das Signal gewesen wäre, auf das er gewartet hatte. Sein Klatschen klang, als wäre ein schweres Buch auf einen Steinboden gefallen. „Aufgepasst, alle miteinander! Ruhe, bitte.“

Stille machte sich im Lagezentrum breit. Zumindest fast. Ein paar Militärs am Konferenztisch ließen sich nicht dabei stören, sich weiter zu unterhalten.

Kurt klatschte erneut in die Hände.

KLATSCH. KLATSCH.

Sie sahen ihn an. Er hob seine Arme, als wollte er sagen: „Seid ihr jetzt fertig?“

Endlich wurde der Raum komplett still.

Kurt bedeutete einer jungen Frau, die in einem Stuhl zu seiner Linken saß, loszulegen. Luke hatte sie schon oft hier gesehen. Sie war Kurts unersetzliche Assistentin. Ihr rotbraunes Haar war zu einem kurzen Bob frisiert, so wie Susans – kurze Bobs waren unter jungen Frauen heutzutage äußerst beliebt. Das war natürlich auch den Zeitschriften und Tratschsendungen im Fernsehen aufgefallen. Kritiker nannten die Frisur den Hopkins-Bob, wenn sie ihnen gefiel und den Hopkins-Helm, wenn nicht. Für die jungen Damen, die sich ihr Haar so richteten, gab es allerdings nur einen allgemeingültigen Namen.

Susans Armee.

Luke gefiel diese Bezeichnung. Er trug zwar keinen Bob, aber er schätzte, dass auch er ein Teil von Susans Armee war.

„Amy, mach die Karten auf, bitte“, sagte Kurt. „Israel und den Libanon.“

Auf dem Bildschirm erschienen blaue und gelbe Symbole, die Explosionen darstellen sollten, im sГјdlichen Libanon. Sie reichten im Norden bis zur sГјdlichen Grenze von Beirut.

„Vor wenigen Stunden hat die israelische Luftwaffe mit ihrer Bombardierung begonnen. Sie greifen die Hisbollah-Tunnelsysteme und Stützpunkte entlang der Blauen Linie an, sowie die von der Hisbollah kontrollierten Stadtteile im Süden von Beirut. Das ist keine große Überraschung und wurde uns sogar von Yonatan Sterns Regierung gestern Abend bereits angekündigt.“

Auf dem Bildschirm tauchten nun rote Symbole in Israel auf. Insgesamt waren es vielleicht fünfzehn. Einen Augenblick später erschienen kleinere rote Symbole im Norden von Israel. Von diesen gab es Dutzende.

„Kurz nachdem Israel mit seinem Luftangriff begann, hat die Hisbollah damit angefangen, Raketen nach Israel zu schicken. Das ist nicht weiter ungewöhnlich für Schlachten zwischen den beiden Fronten. Der Krieg im Jahre 2006 verlief sehr ähnlich. Doch es gibt ein Problem. Seitdem hat die Hisbollah sich bessere Feuerkraft gesichert.“

Ein Foto einer groГџen Rakete auf einer mobilen Startplattform erschien.

„Das ist die Fateh-200, ein iranisches Waffensystem. Langstreckenrakete mit mehreren Sprengköpfen, die einiges an Schaden anrichten können. Werden sie aus dem Libanon gestartet, können sie nahezu jedes Ziel in Israel erreichen, außer vielleicht die nur leicht besiedelte Negev-Wüste im Süden. Mit ihrer ausgeklügelten Steuerung und Navigation hat die Hisbollah zum ersten Mal Möglichkeiten für Präzisionsschläge.“

Kurt hielt einen Moment inne. „Laut unseren Quellen verfügt die Hisbollah inzwischen über die Fateh-200. Wir glauben, dass sie bis jetzt ungefähr zwanzig bis dreißig dieser Raketen gestartet haben. Jede von ihnen trug bis zu zwölf Sprengköpfe. Sie haben zivile und militärische Ziele in Bevölkerungszentren in ganz Israel anvisiert, einschließlich Tel Aviv, dem westlichen Rand von Jerusalem, dem Zentrum von Haifa und anderen Städten. Israels Flug- und Raketenabwehrsystem, auch bekannt als Davids Schleuder, hat vielleicht zwei Drittel dieser Angriffe abgewehrt. Doch das hat nicht gereicht.

„Mehrere zivile Nachbarschaften wurden getroffen und zahlreiche Gebäude wurden zerstört. Einer der Sprengköpfe traf ein Ziel, das nur einen halben Kilometer von der Knesset entfernt war, Israels Parlament, während gerade eine Sitzung tagte.“

„Wie viele Tote gibt es bis jetzt?“, fragte Haley Lawrence, der Verteidigungsminister.

„Bis jetzt kennen wir nur die offiziellen Zählungen, die veröffentlicht wurden. Mehr als 400 zivile Opfer, tausende Verletzte und eine Menge Zerstörung und Panik. Zahlen über Militäropfer wurden bis jetzt noch nicht veröffentlicht, doch die Israelis bereiten sich auf einen totalen Krieg vor und rufen momentan sämtliche Reserven und einsatzfähige Veteranen dazu auf, sich zu melden. Sie haben ihre Bombardierungen im Libanon drastisch hochgefahren, vermutlich um die restlichen Fateh-200-Raketen zu zerstören, bevor sie gestartet werden können.“

„Haben sie Erfolg gehabt?“, fragte Luke, kannte die Antwort aber bereits.

Kurt schüttelte seinen Kopf. „Das wissen wir noch nicht. Wir bezweifeln es aber. Noch während wir hier sitzen, startet die Hisbollah weiterhin kleine, ungerichtete Raketenschläge in Richtung Nordisrael und demonstriert damit, dass sie immer noch die Möglichkeiten haben, Angriffe zu unternehmen. Wir glauben, dass sie die restlichen Fateh-200-Raketen im Moment noch zurückhalten, später aber einsetzen könnten.

„Israel hat den Iran öffentlich dafür beschuldigt, die Hisbollah mit den neuen Raketensystemen auszustatten. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben sie damit recht. Die Hisbollah ist ein Handlanger für den Iran. Vor dreißig Minuten hat Israel damit gedroht, den Iran anzugreifen, falls auch nur eine weitere Fateh-200 oder eine ähnliche Rakete gestartet wird.“

Kurt holte kurz Luft. „Zehn Minuten später hat der Iran die Israelis darüber in Kenntnis gesetzt, dass jeglicher Angriff seitens Israel dazu führen wird, dass sie mit einem Atomschlag antworten werden. Außerdem haben sie sie darüber informiert, dass sie diesen Atomschlag auch auf den amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in Doha, Qatar, sowie auf unsere Botschaft in Bagdad richten werden.“

Das Lagezentrum war mehrere Sekunden lang totenstill. Luke stand in einer Ecke und beobachtete die Gesichtsausdrücke der Anwesenden. Mehrere Mitarbeiter wurden rot, als wäre ihnen etwas peinlich. Andere starrten mit weit aufgerissenen Augen und Mündern ins Leere.

„Der Iran hat keine Atomwaffen“, sagte jemand. „Das ist nicht möglich.“

Kurt schüttelte seinen Kopf. „Jedes internationale Abkommen und jede Vereinbarung besagt, dass der Iran keine nuklearen Fähigkeiten hat und es ihnen untersagt ist, welche zu entwickeln. Doch das heißt nicht unbedingt, dass sie keine Atomwaffen besitzen. Amy, den Iran, bitte.“

Eine neue Karte tauchte auf dem Bildschirm auf. Luke fГјhlte sich bei ihrem bloГџen Anblick unwohl. Er war schon einmal im Iran gewesen. Nicht gerade sein Lieblingsort.

„Die Islamische Republik Iran ist eine schiitisch-islamische Theokratie. Wir wissen, dass sie seit der Islamischen Revolution im Jahre 1979 schon Ambitionen hegen, Atomwaffen zu erlangen.“

„Aber wenn sie jemals einen Atomwaffentest durchgeführt hätten“, sagte Susan, „würden wir davon wissen.“ Es war das erste Mal, dass sie etwas gesagt hatte, seitdem das Meeting begonnen hatte.

„Ich wünschte, dem wäre so“, sagte Kurt. „Untergrundtests werden in aller Welt immer beliebter – sie sind äußerst schwer aufzuspüren und zu dokumentieren. Fortgeschrittene Detektionssysteme für radioaktive Strahlung können zwar sehr kleine Mengen Strahlung entdecken, die in die Atmosphäre abgegeben werden. Diese Daten, kombiniert mit Berechnungen von Windstärken, können uns relativ genau sagen, wo die Strahlung herkommt. Wenn ich allerdings ‚relativ genau� sage, bedeutet das eine Fehlerquote von mehreren hundert Kilometern. Und da der Iran nicht weit von Pakistan entfernt ist – und Pakistan bekannterweise über Atomwaffen verfügt – ist es schwer, eine Strahlungsquelle ausfindig zu machen und eindeutig festzustellen, dass sie aus dem Iran kommt.“

„Aber dieses Tests schlagen sich doch auch auf Seismographen nieder“, sagte Susan. „Sie sind quasi wie kleine Erdbeben.“

Kurt nickte. „Und das ist es, was die Sache im Iran noch schwieriger macht. Der Iran ist einer der seismologisch aktivsten Orte auf der ganzen Welt. Dort finden ständig Erdbeben statt, auch häufig sehr große. Die letzte Katastrophe war im Jahre 2003, als ein Erdbeben der Stärke 6,6 mindestens dreiundzwanzigtausend Menschen in der Stadt Bam getötet hat. Aber abgesehen von diesen großen Katastrophen gibt es ständig kleinere Beben im Iran. Wir verfolgen die seismologischen Aktivitäten dort täglich. Es ist, als hörte man den Wellen an einem Strand zu. Es hört niemals auf, dort zu rumpeln.“

„Was willst du mit all dem sagen, Kurt?“, fragte Susan. „Sag es einfach.“

„Iran könnte theoretisch Atomwaffen bauen und sie testen“, sagte er, „ohne, dass wir jemals davon erfahren.“

Luke hatte plötzlich eine Idee. Sie war einfach so in seinem Kopf aufgetaucht. Er hatte nicht groß darüber nachgedacht. Vielleicht gefiel sie ihm nicht, aber sie war da – und er sprach sie aus.

„Warum schicken wir kein verdecktes Infiltrationsteam los?“, schlug er vor. „Sie könnten in den Iran eindringen und herausfinden, ob sie bluffen oder nicht. Wenn nicht, finden sie den Standort der Atomwaffen heraus und fordern einen Luftangriff an.“

Zugegeben hatte er sich nicht sämtliche Details des Plans genau überlegt, aber sobald er es ausgesprochen hatte, wusste er, dass es eine gute Idee war.

„Für so einen Einsatz haben wir nicht die notwendigen Teams“, sagte ein Mann in grüner Uniform. „Es könnte Wochen, oder sogar Monate dauern –“

„General, da würde ich widersprechen“, sagte Luke. „Wir haben die notwendigen Leute. Meine Organisation, das Special Response Team, ist bereit für den Einsatz.“




KAPITEL NEUN


08:15 Uhr Eastern Standard Time

Der WestflГјgel

Das WeiГџe Haus, Washington, D.C.



„Das ist eine Katastrophe“, sagte Susan. „Das ist verrückt. Das werde ich niemals erlauben.“

Sie gingen zu dritt durch den Westflügel zurück zum Oval Office – Susan, Kurt und Kat Lopez. Susans und Kats Absätze klackerten auf dem Marmorboden. Drei große Geheimdienstagenten folgten ihnen, zwei gingen ihnen voraus.

Die Doppeltüren zum Oval Office lagen vor ihnen, flankiert von zwei weiteren Agenten. Susan und der Schwarm an Begleitern gingen so schnell, dass sie sich fühlte, als befände sie sich auf einem Förderband, das ins Oval Office führte. Sie fühlte sich, als hätte sie keine Kontrolle über das Geschehen. Sie wollte dieses Meeting nicht abhalten. Noch vor ein paar Monaten hätte es sie nicht weiter gestört, ihre besten Agenten auf eine lebensbedrohliche Mission zu schicken.

„Susan, wir haben noch ein Problem“, sagte Kurt.

„Raus damit.“

„Die Israelis schicken uns keine Daten mehr über ihre Opfer oder über ihre Pläne. Yonatan Stern ist außer sich. Er will den Iran sofort angreifen, aber wir haben ihn darum gebeten, sich noch zurückzuhalten. Er bombt bereits den gesamten Südlibanon auseinander, doch die Hisbollah antwortet immer noch mit ihren Raketen. Er bezeichnet ihre Angriffe und die Bedrohung durch den Iran eine Demütigung und er gibt uns die Schuld. Er ist kurz davor, unseren Botschafter aus dem Land zu schmeißen. Er möchte mit dir sprechen.“

Susan schüttelte ihren Kopf. „Das wird ja immer besser und besser.“

Sie gingen durch die DoppeltГјren ins Oval Office.

„Soll ich ein Gespräch mit ihm anmelden?“, fragte Kat.

Susan zuckte mit den Schulten. „Klar doch. Ich rede mit ihm. Kurt, bittest du jemanden darum, die wichtigsten Gesprächspunkte vorzubereiten? Was soll ich ihm überhaupt sagen? Warum vertragt ihr euch nicht einfach? Warum ladet ihr die Typen, die euch bombardieren, nicht zu einer Runde Kaffee und Kuchen ein?“

„Natürlich“, sagte Kurt und zog sich in eine Ecke des Büros zurück. Er hatte sein Telefon bereits in der Hand.

Kat verschwand durch die TГјren.

Susan blickte sich im Oval Office um. Vor ihr waren die drei großen Fenster, die einen Ausblick auf den Rosengarten boten. Draußen war es ein sonniger Wintertag. Mit ihr im Büro waren mehrere Leute. Luke Stone saß in einem großen Ledersessel im Sitzbereich. Unter seinen Füßen war das große Siegel des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Neben ihm saß Haley Lawrence, der Verteidigungsminister. Er sah aus, als hätte er ein wenig zugenommen – Susan dachte, dass das zusätzliche Gewicht an ihm wie Babyspeck aussah. Der weit über ein Meter achtzig große Mann sah eher aus wie ein kleiner Junge.

Zwei weitere Männer standen bei ihnen. Sie trugen grüne Paradeuniformen – Susan schätzte sie auf Mitte fünfzig. Sie sahen äußerst fit aus und ihre Haare waren kurzgeschoren. Sie hätten fast Zwillinge sein können – Diedeldum und Diedeldei.

„Madam President“, sagte Diedeldum. Er streckte seine Hand aus. „Ich bin General Steven Perkins vom Verteidigungsnachrichtendienst.“

Sie nickte ihm zu, während seine Hand ihre geradezu verschluckte.

„General.“

Diedeldei streckte seine Hand ebenfalls aus. „Madam President, mein Name ist Mike Sobchak vom Marinenachrichtendienst.“

„Admiral.“

Sie schüttelte ihren Kopf. „Okay, wie lautet unser aktueller Stand?“, fragte Susan. „Was für einen Plan haben Sie und Agent Stone ausgeheckt?“

Kurt war zurück, nachdem er ganze elf Sekunden lang in sein Handy geflüstert hatte. „Bitte schließen Sie die Türen“, sagte er an die Geheimdienstagenten gerichtet.

„Es handelt sich um eine streng geheime Mission“, erklärte Haley Lawrence.

Susan zuckte mit den Schultern. „Das habe ich mir schon gedacht. Schießen Sie los.“

„Wir entsenden per Flugzeug vom Außenministerium ein kleines Team nach Israel“, sagte Kurt. „Seit gestern haben wir bereits drei Flugzeuge vom Außenministerium herübergeschickt, also würde es für jeden Beobachter nicht weiter auffällig wirken – Krisendiplomaten, die auf dem Weg sind, die Situation zu entschärfen.“

„Niemand würde auf die Idee kommen, dass wir Spione entsenden“, sagte Susan.

„Wenn das Team ankommt, wird es vom israelischen Geheimdienst über mögliche Standorte iranischer Atomwaffen in Kenntnis gesetzt. Das Team wird mit den Israelis zusammen das Eindringen vorbereiten und schließlich im Schutze der Dunkelheit in den Iran abspringen. Das Team bahnt sich mit allen Mitteln seinen Weg zu den wahrscheinlichsten Standorten und bestätigt die Existenz von Atomwaffen an diesen Orten – oder auch nicht. Falls sie die Waffen finden, fliegen wir Lufteinsätze an diese Koordinaten und zerstören die entsprechenden Silos.“

„Lufteinsätze? Von wem?“, fragte Susan. „Uns Amerikanern oder den Israelis?“

„Von uns“, antwortete Diedeldum. „Wir brauchen starke Bunkerbrecher, Bomben, die Untergrundziele zerstören können und aus großer Höhe abgeworfen werden. Wahrscheinlich MOABs aus B-52 Bombern, wenn wir die entsprechenden Bunker denn überhaupt mit konventionellen Waffen zerstören können. Das muss nicht unbedingt der Fall sein. Wir glauben nicht, dass die Israelis über solche Waffen verfügen.“

„Wir glauben nicht?“, fragte Susan. „Wissen wir das etwa nicht?“

„Wir sprechen hier von Israel“, sagte Diedeldei. „Vielleicht haben sie solche Waffen, vielleicht auch nicht. Sie sind nicht gerade offen, wenn es um solche Informationen geht. Wie dem auch sei, wenn die Israelis selbst Bomben auf iranische Raketensilos werfen, könnte das den Dritten Weltkrieg auslösen. Die Russen sind enge Verbündete des Iran. Außerdem hassen die sunnitischen Länder die iranischen Schiiten. Aber nur so lange, bis die Israelis sie bombardieren. Ab dem Moment sind sie auf einmal alle verbündete Muslime und jegliche israelische Aggression muss vergolten werden. Wenn wir allerdings die Bomben abwerfen …“

Er zuckte mit den Schultern. „Die Russen werden wir schon beschwichtigen können. Und die sunnitischen Länder werden einfach damit leben müssen.“

„Warum schicken die Israelis nicht ihre eigenen Agenten, um nach den Waffen zu suchen?“, fragte Susan.

„Wir haben mit ihrem Geheimdienst gesprochen. Sie glauben, dass eine solche Mission schief gehen wird. Sie würden lieber den Iran zerbomben und jede einzelne iranische Militärbasis zerstören und einfach darauf hoffen, dass sie eventuelle Atombomben dabei mit erwischen. Wir raten ihnen momentan – sehr nachdrücklich – dazu, das nicht zu tun. Das Risiko, den Iran ungerichtet zu bombardieren und dabei auch nur eine Atombombe intakt zu lassen, ist einfach zu hoch, als dass …“

Susan sah zu Luke. „Hallo, Agent Stone.“

Er blickte ihr direkt in die Augen. Das war der Moment, den sie hasste, der Moment, vor dem sie sich gefГјrchtet hatte. Sie wГјrde am liebsten hier und jetzt die Zeit anhalten.

„Madam President.“

„Sie haben vor, diese Mission anzunehmen?“

Er nickte. „Ja. Natürlich. Sie war schließlich meine Idee.“

„Für mich klingt das nach einer Selbstmordmission, Agent Stone.“

„Ich habe schon schlimmere Vorschläge gehört“, entgegnete Luke. „Wie dem auch sei, das ist genau der Grund, warum das Special Response Team existiert. Ich habe bereits mit meinem Team gesprochen. Wir können innerhalb von ein paar Stunden starten.“

Sie versuchte es mit einem anderen Ansatz. „Agent Stone, Sie sind der Direktor des Special Response Teams. Laut meinen Aufzeichnungen sind Sie zweiundvierzig Jahre alt. Würden Sie nicht sagen, dass ein jüngeres Mitglied Ihrer Agentur besser geeignet wäre? Jemand, der ein wenig sportlicher ist?“

„Ich werde mit Ed Newsam zusammenarbeiten“, sagte Luke. „Er ist fünfunddreißig. Und ich bin selbst noch ziemlich sportlich für einen alten Greis.“

„Agent Stone und Agent Newsam haben beide ausführliche Einsatzerfahrung im Mittleren Osten“, sagte Diedeldum. „Sie sind beide Eliteveteranen, waren beide bereits tief Undercover und kennen sich mit der israelischen, arabischen und persischen Kultur aus. Beide können sich auf Farsi verständigen.“

Susan ignorierte ihn. Sie blickte sich im Büro um. Alle schienen sie anzustarren. Sie wusste, dass sie über die Einzelheiten der Mission sprechen wollten. Sie wollten, dass sie sofort das grüne Licht gab, sodass sie die Vorbereitungen treffen und einen Plan B aufstellen konnten. Es war ihnen egal, wer genau auf den Einsatz ging – es stand bereits fest.

„Ich würde mich gerne kurz mit Agent Stone unter vier Augen unterhalten.“


* * *

„Luke, bist du vollkommen verrückt?“

Die anderen Anwesenden, auch die Geheimdienstagenten, waren ausgetreten.

„Ich würde nicht einmal meinen schlimmsten Feind auf so eine Mission schicken. Du willst per Fallschirmsprung in den Iran einfallen und dann im ganzen Land, das voll mit Leuten ist, die dich töten wollen, umherirren, bis du zufällig auf ihre Atomwaffen stößt?“

Er lächelte. „Naja, ich hoffe, dass wir das Ganze ein bisschen besser planen als wie du es darstellst.“

„Du bringst dich noch damit um.“

Er stand auf und ging zu ihr. Er versuchte, sie zu umarmen. Einen Moment lang versteifte sie sich, dann entspannte sie sich jedoch und erwiderte seine Umarmung.

„Weißt du, wie lächerlich es wirkt, wenn die Präsidentin der Vereinigten Staaten sich übermäßige Sorgen um das Leben eines ihrer Spezialagenten macht, dessen gesamte Karriere aus dieser Art von Missionen besteht?“

Sie schüttelte ihren Kopf. „Das ist mir egal. Das hier ist anders. Ich kann keine Mission erlauben, auf der du umkommen könntest. Das ist doch verrückt.“

Er sah zu ihr herunter. „Willst du mir sagen, dass ich meinen Job an den Nagel hängen muss, um mit dir zusammen zu sein?“

„Nein. Du bist der Chef deiner eigenen Agentur. Du musst nicht selbst raus. Du musst dich nicht freiwillig melden. Schicke jemand anderen.“

„Du willst, dass ich jemand anderen auf diese Selbstmordmission schicke?“

Sie nickte. „Genau. Schick jemanden, den ich nicht liebe.“

„Das kann ich nicht machen, Susan.“

Sie drehte sich von ihm weg und plötzlich standen Tränen in ihren Augen. „Ich weiß. Das weiß ich doch. Aber um Gottes willen, bitte pass da draußen auf dich auf.“




KAPITEL ZEHN


16:45 Uhr israelischer Zeit (09:45 Uhr Eastern Standard Time)

Samsons Höhle – Tief unter der Erde

Jerusalem, Israel



„Sagen Sie Ihnen, dass sie still sein sollen.“

Yonatan Stern, Premierminister von Israel, saß in seinem Stammsessel am Kopf des Konferenztisches in der israelischen Krisenkommandozentrale und stützte sein Kinn mit den Händen ab. Der Raum war eine große, ovale Höhle. Um ihn herum befanden sich Militär- und politische Berater, die einander anschrien, beleidigten und wild gestikulierten.

Wie ist es nur so weit gekommen? schien die brennendste Frage zu sein. Und die Antwort, zu der jeder der anwesenden brillanten Genies hier gekommen zu sein schien war: Jemand anderes ist schuld.

„David!“, sagte er und blickte seinen Stabschef an, ein muskulöser Ex-Soldat, der seit sie gemeinsam in der Armee gedient hatten seine rechte Hand war. David sah ihn an. Seine dunklen Augen strahlten Elend aus und er hatte seine Kiefer zusammengepresst, so wie er es immer tat, wenn er nervös oder abgelenkt war. Vor langer Zeit einmal hatte er seine Feinde mit bloßen Händen töten können und sah dabei trotzdem aus, als wollte er sich am liebsten bei ihnen entschuldigen. Das hatte sich bis heute nicht geändert.

„Bitte“, sagte Yonatan. „Sorg für Ruhe.“

David zuckte mit den Schultern. Er trat an den Konferenztisch und schlug mit seiner massiven Faust auf die Oberfläche.

BUMM!

Er sagte kein Wort, sondern schlug stattdessen erneut zu.

BUMM!

Und wieder. Und wieder. Und wieder. Jedes Mal, wenn er auf den Tisch schlug, wurde der Raum ein wenig ruhiger. Schlussendlich schwieg jeder der Anwesenden und starrte David Cohn, Yonatan Sterns rechte Hand, an. Ein Mann, den jeder hier respektierte.

Er hob seine Faust ein letztes Mal, doch der Raum war jetzt komplett still. Einen Moment lang hielt er sie Гјber dem Tisch, wie einen Hammer. Dann entspannte er sich.

„Danke, David“, sagte Yonatan. Er schaute sich um. „Meine Herren, ich würde dieses Treffen gerne offiziell beginnen. Also setzen Sie sich bitte und schenken Sie mir Ihre Aufmerksamkeit.“

Efraim Shavitz war hier, so jungenhaft wie eh und je, viel jugendlicher als sein Alter es eigentlich erlauben sollte. Er wurde auch das Model genannt. Er war der Leiter des Mossad. Er trug einen teuren, maßgeschneiderten Anzug und schwarze italienische Lederschuhe. Er sah aus, als wollte er gerade in einen der teuren Nachtclubs von Tel Aviv gehen, statt der Auslöschung seines eigenen Volkes zuzusehen. In diesem Raum voller älterer Militäroffiziere wirkte Shavitz wie ein exotischer Vogel.

Yonatan schГјttelte seinen Kopf. Shavitz war ein Гњberbleibsel der vorherigen Regierung. Yonatan hatte ihn nur behalten, weil er so hoch gelobt wurde und weil es schien, als wГјsste er, was er tat. So war es zumindest bis heute gewesen.

„Efraim, deine Einschätzung, bitte.“

Shavitz nickte. „Gerne.“

Er nahm eine Fernbedienung aus der Tasche und wandte sich zu dem groГџen Bildschirm am Ende des Konferenztisches. Ein Video eines Raketenstarts von einer grГјnen mobilen Raketenplattform erschien.

„Der Libanon verfügt nun über die Fateh-200. Wir haben bereits seit einiger Zeit vermutet, dass –“

„Seit einiger Zeit vermutet? Seit wann?“, unterbrach ihn Yonatan.

Shavitz blickte ihn an. „Wie bitte?“

„Seit wann vermutet ihr, dass die Hisbollah das Fateh-200-Waffensystem besitzt? Ich habe nie auch nur einen Bericht darüber gesehen, und ich wurde auch nie informiert, dass es so einen Bericht gibt. Ich habe erst davon gehört, als auf einmal hochexplosive Langstreckenraketen Wohngebäude in Tel Aviv zum Einsturz gebracht haben.“

Einen langen Moment war alles still. Die anderen Männer im Raum blickten Yonatan Stern und Efraim Shavitz an.

„Wie dem auch sei, sie haben sie jetzt“, sagte Shavitz.

Yonatan nickte. „Ja, in der Tat. Und der Iran … Was haben sie für Fähigkeiten?“

Shavitz zeigte mit dem Finger auf Yonatan. „Bring bloß nicht die konventionellen Waffen der Hisbollah mit der atomaren Bedrohung durch den Iran zusammen, Yonatan. Wir haben dir gesagt, dass der Iran an Atomwaffen arbeitet. Wir kennen die Standorte. Wir kennen die Leute, die sie einsetzen. Wir wissen ungefähr, um wie viele Sprengköpfe es sich handelt. Seit Jahren erzählen wir dir von dieser Bedrohung. Wir haben einige gute Leute verloren, um an diese Informationen zu gelangen. Dass du nicht gehandelt hast, ist weder meine Schuld, noch die des Mossad.“

„Es gibt für alles politische Konsequenzen“, erklärte Yonatan.

Shavitz schüttelte seinen Kopf. „Dafür bin ich nicht zuständig. Nun, wir glauben jedenfalls, dass der Iran bis zu vierzehn Sprengköpfe besitzt, auf drei Standorte verteilt, sehr wahrscheinlich tief im Untergrund. Vielleicht haben sie auch gar keine. Es könnte alles eine Lüge sein. Aber auf jeden Fall sind es nicht mehr als vierzehn.“

„Und wenn sie sie tatsächlich besitzen, alle vierzehn?“

Shavitz zuckte mit den Schultern. Eine Haarlocke verrutschte auf seinem frisierten Kopf, was sehr untypisch für ihn war. Stern dachte, dass er sich besser noch einmal kämmen sollte, bevor er seinen Nachtclub betrat. „Und wenn sie sie starten?“

Yonatan nickte. „Genau.“

„Dann werden wir ausgelöscht. Ganz einfach.“

„Wie sehen unsere Optionen aus?“

„Sehr beschränkt“, sagte Shavitz. „Ich denke, alle Anwesenden wissen, was unsere Möglichkeiten sind. Wie unser eigenes nukleares, konventionelles und Luftwaffenarsenal aussieht. Wir könnten einen massiven Präemptivschlag auf alle bekannten iranischen und syrischen Raketensilos und alle iranischen Luftwaffenstützpunkte starten. Wenn wir alles einsetzen, was wir haben und uns perfekt koordinieren, könnten wir das Militär des Iran und von Syrien komplett zerstören und sie zurück ins Mittelalter katapultieren. Du musst mir allerdings nicht erklären, was das für weltweite Konsequenzen haben würde.“

„Was ist mit einem kleineren Angriff?“

Shavitz schüttelte seinen Kopf. „Wofür? Jeder Angriff, nach dem der Iran noch über seine Raketen verfügt, oder nach dem sie noch immer Kampfjets in der Luft haben, oder der auch nur eine einzelne Atombombe intakt lässt, wäre ein Desaster für uns. Während wir eingeschlafen sind, Premierminister, oder damit beschäftigt waren, unseren Freunden lukrative Regierungsaufträge zukommen zu lassen, waren die Iraner fleißig wie die Ameisen und haben ein unglaublich solides Raketenarsenal aufgebaut, für genau so einen Fall, wie wir ihn jetzt vor uns haben.

„Die Fajir-3 ist ein Präzisionssystem und kann so gut wie nicht abgewehrt werden. Das Shahab-3-Programm verfügt über genug Raketen, Feuerkraft und Reichweite, um jeden Quadratzentimeter Israels zu bombardieren. Die Ghadr-110, die Ashoura, die Sejjil und die Bina-Systeme können uns allesamt erreichen und bestehen aus tausenden von individuellen Projektilen und Sprengköpfen. Und, auch wenn das unsere geringste Sorge im Moment ist, sie arbeiten immer noch an der Simorgh-Rakete, ein satellitengestütztes System, das sich gerade in der Testphase befindet und innerhalb des nächsten Jahres einsatzfähig sein wird. Wenn sie das einmal fertig haben …“

Shavitz seufzte. Die anderen Anwesenden schwiegen betreten.

„Was ist mit unseren Schutzbunkern?“

Shavitz nickte. „Sicher doch. Angenommen, die Iraner bluffen und sie verfügen nicht über Atomwaffen. Trotzdem würden sie einen riesigen Angriff auf uns starten. Ein gewisser Prozentsatz unserer Einwohner würde es sicher rechtzeitig in die Bunker schaffen, einige der Bunker würden standhalten und anschließend würden einige Überlebende wieder hervorkriechen. Aber glaub nicht einen Moment lang, dass sie alles wiederaufbauen würden. Sie wären traumatisiert und hilflos und befänden sich inmitten einer zerbombten Mondlandschaft. Was würde die Hisbollah dann tun? Oder die Türken? Oder die Syrer? Oder die Saudis? Uns zu Hilfe kommen und die letzten Überreste der israelischen Gesellschaft retten? Das glaube ich nun wirklich nicht.“

Yonatan atmete tief durch. „Gibt es gar keine anderen Optionen?“

Shavitz zuckte mit den Schultern. „Nur eine. Die Idee der Amerikaner. Ein kleines Einsatzteam entsenden, herausfinden, ob die angeblichen Atombomben überhaupt existieren und dann ihren Standort bestätigen. Anschließend kommen amerikanische Bomber und starten Präzisionsschläge auf diese Standorte, entweder mit unserer Unterstützung oder nicht. Wenn die Amerikaner es schaffen, die nukleare Bedrohung auszuschalten, würden die Iraner vielleicht zögern.“

Yonatan gefiel diese Idee ganz und gar nicht. Er wusste, wie viele Männer sie bereits verloren hatten, wertvolle und fähige Agenten, die auf Missionen wie diesen ihr Leben gelassen hatten. Er würde abwarten müssen, während die Agenten untertauchten und Funkstille herrschte. Er würde erst wissen, ob sie etwas erreicht hätten, wenn sie wiederauftauchten – wenn sie denn überhaupt jemals wiederauftauchten. Yonatan gefiel der Gedanke an diese Warterei nicht – nicht, wenn die Zeit nicht auf ihrer Seite stand und der Iran jederzeit seinen Angriff starten konnte.

Außerdem gefiel Yonatan diese Idee nicht, weil sie scheinbar direkt aus Susan Hopkins� Weißem Haus kam. Hopkins hatte keine Ahnung, in was für einer Lage sich Israel befand und es schien sie auch nicht besonders zu kümmern. Sie war wie ein Papagei, dessen Besitzer ihr nur zwei Worte beigebracht hatte.

Die Palästinenser. Die Palästinenser. Die Palästinenser.

„Wie stehen die Chancen, dass eine solche Mission erfolgreich wäre?“, fragte Yonatan.

Shavitz schüttelte seinen Kopf. „Sehr, sehr gering. Aber es zu versuchen würde die Amerikaner zufriedenstellen und ihnen zeigen, dass wir uns zurückhalten. Wenn wir der ganzen Sache ein Zeitlimit aufsetzen, sagen wir achtundvierzig Stunden, wäre das vielleicht keine schlechte Idee.“

„Haben wir denn so viel Zeit?“

„Wenn wir den Iran strengstens nach Anzeichen eines Erstschlags überwachen und unseren eigenen Angriff nach Punkt achtundvierzig Stunden starten, sollte es in Ordnung sein.“

„Und wenn die Agenten getötet oder gefangen genommen werden?“

„Das Team wird aus Amerikanern bestehen, vielleicht mit einem israelischen Führer, der Einsatzerfahrung im Iran besitzt. Unser Mann wird ein Undercoveragent sein, der keine Identität besitzt. Falls irgendetwas schief geht, können wir einfach jegliche Beteiligung unsererseits abstreiten.“

Shavitz hielt einen Moment lang inne. „Ich weiß auch schon, wer perfekt für diesen Einsatz geeignet ist.“




KAPITEL ELF


12:10 Uhr Eastern Standard Time

Joint Base Andrews

Prince George’s County, Maryland



Der kleine blaue Jet mit dem Logo des US-Außenministeriums auf der Seite bewegte sich langsam auf die Rollbahn zu und drehte sich abrupt nach rechts. Der Start war bereits genehmigt worden, also beschleunigte es, hob ab und machte sich auf seinen Weg in die Wolkendecke. Einen Moment später drehte es sich nach links in Richtung Atlantik.

Im Inneren des Flugzeugs machten es Luke und sein Team so wie immer – sie verwendeten die vorderen vier Sitze und verstauten ihr Gepäck im hinteren Bereich.

Sie waren später losgeflogen, als sie geplant hatten. Luke hatte Gunner noch in der Schule besuchen wollen. Er hatte seinem Sohn versprochen, dass er niemals auf eine Mission gehen würde, ohne vorher persönlich mit ihm zu sprechen und ihm so viel zu erzählen, wie es ihm möglich war. Gunner hatte ihn darum gebeten und Luke hatte zugestimmt.

Sie hatten sich in einem kleinen Zimmer getroffen, in das sie der Assistent des Rektors geführt hatte – nicht mehr als ein Lagerraum für Musikinstrumente, die hauptsächlich Staub ansammelten, so wie es aussah.

Gunner hatte die Neuigkeiten ganz gut aufgefasst, wenn man die Umstände betrachtete.

„Wo gehst du hin?“, hatte er gefragt.

Luke hatte den Kopf geschüttelt. „Das ist geheim, Monster. Wenn ich dir das sage …“

„Sage ich es jemandem weiter, und der sagt es wieder jemandem weiter.“

„Ich glaube nicht, dass du es jemandem erzählen würdest. Aber allein die Tatsache, dass du es wüsstest, würde dich gefährden.“

Er hatte seinen Sohn angeschaut, der mehr als nur niedergeschlagen aussah.

„Machst du dir Sorgen?“

Gunner hatte den Kopf geschüttelt. „Nein. Ich glaube, du kannst ganz gut auf dich selbst aufpassen.“

Im hier und jetzt im Flugzeug lächelte Luke bei dem Gedanken an seine Worte. Sein Junge hatte so viel durchmachen müssen und trotzdem seinen Sinn für Humor nicht verloren.

Luke betrachtete sein Team. Im Sitz neben ihm saß Ed Newsam. Er hatte khakifarbene Cargohosen und ein langärmliges T-Shirt an. Seine Augen waren wie Stahl, er war riesig und massiv wie eh und je. Natürlich war Ed älter geworden. Falten zeichneten sich auf seinem Gesicht ab, die früher nicht da gewesen waren, besonders um die Augen herum. Auch seine Haare waren nicht mehr so tiefschwarz wie einst – ein paar graue und weiße Strähnen waren jetzt zu sehen.

Ed hatte das Geiselrettungsteam des FBI verlassen, um bei Luke anzuheuern. Beim FBI hatte Ed sich langsam hochgearbeitet – er hätte mehr Verantwortung übernehmen sollen, hätte mehr Zeit am Schreibtisch verbracht und viel weniger Zeit draußen im Einsatz. Laut ihm hatte er gewechselt, um endlich wieder ein wenig Action zu sehen. Trotzdem hatte er eine Gehaltserhöhung verlangt. Aber das machte nichts. Luke war bereit gewesen, das Budget des SRT bis an die Grenzen auszureizen, wenn es darum ging, Ed zurück an Bord zu holen.

Links gegenüber von Luke saß Mark Swann. Er hatte seine langen Beine wie immer ausgestreckt. Er hatte ein altes Paar zerrissener Jeans und rote Chuck Taylor Schuhe an. Auch Swann hatte sich verändert. Nachdem er seine Gefangenschaft in den Klauen des IS nur knapp überlebt hatte, war er ernster geworden – er machte keine Witze mehr darüber, wie gefährlich ihre Missionen waren. Luke war froh, dass er überhaupt zurückgekommen war – es hatte eine Zeit gegeben, in der sich Swann geradezu eingesperrt hatte und in der es so geschienen hatte, als würde er sein Penthouse am Strand nie wieder verlassen.

Und dann war da natürlich noch Trudy Wellington. Sie saß Luke direkt gegenüber. Sie hatte wieder braune gelockte Haare und im Gegensatz zu ihnen schien es, als wäre sie kein bisschen gealtert. Kein Wunder. Trotz allem, was sie gesehen und durchgemacht hatte – ihre Zeit als Analytikerin bei der ersten Inkarnation des SRT, ihre Beziehung mit Don Morris, ihre Flucht aus dem Gefängnis und die Zeit, in der sie untergetaucht war – war sie erst zweiunddreißig. Sie war so dünn und attraktiv wie eh und je in ihrem grünen Sweatshirt und der blauen Jeans. Sie trug ihre große, runde, rote Eulenbrille nicht mehr, hinter der sie sich früher versteckt hatte. Jetzt standen ihre schönen blauen Augen im Vordergrund.

Diese Augen starrten Luke jetzt an. Sie sah nicht gerade begeistert aus.

Was wusste sie Гјber seine Beziehung mit Susan? War sie deswegen wГјtend? Warum sollte sie?

„Weißt du überhaupt, was du tust, Mann?“, fragte Ed Newsam. Er klang entspannt, aber Luke meinte eine Spur Nervosität in seiner Stimme zu hören.

„Meinst du, was die Mission angeht?“

Ed zuckte mit den Schultern. „Na klar. Für den Anfang.“

Luke blickte aus dem Fenster, während er sprach. Es war hell draußen, aber sie hatten die Sonne bereits hinter sich gelassen. Es würde nicht mehr lange dauern und der Himmel würde sich verdunkeln, während sie weiter Richtung Osten flogen. Er spürte die Mission bedrohlich im Hintergrund lauern – ein ihm nur allzu vertrautes Gefühl, und einer der Aspekte dieser Einsätze, die er nicht besonders schätzte. Es war ein Wettrennen gegen die Zeit. Es war immer ein Wettrennen gegen die Zeit und sie waren bereits jetzt spät dran. Sie sollten einen Krieg verhindern, der bereits angefangen hatte.

„Ich schätze, das werden wir gleich herausfinden. Trudy?“

Sie zuckte mit den Schultern und nahm ihr Tablet in die Hand. „Okay“, sagte sie. „Ich gehe wie immer davon aus, dass wir bei null anfangen.“

„Klingt gut“, sagte Luke. „Jungs?“

„Alles gut“, stimmte Swann zu.

„Schieß los“, sagte Ed. Er lehnte sich zurück.

„Alles dreht sich um Israel und den Iran“, erklärte Trudy. „Das könnte eine lange Lektion werden.“

Luke zuckte mit den Schultern. „Der Flug ist lang genug“, sagte er.


* * *

„Israel ist noch jung. Das Land wurde erst 1948 gegründet“, sagte Trudy. „Aber die Idee eines israelischen Staates, oder auch Eretz Israel, das Land Kanaans, ist den Juden bereits seit biblischen Zeiten heilig, wahrscheinlich schon seit ungefähr zweitausend Jahren vor Christus. Die ersten schriftlichen Aufzeichnungen, die Israel als Standort erwähnen, wurden ins Jahr 1200 vor Christus datiert. Die entsprechende Gegend wurde seit der Antike von den Babyloniern, den Ägyptern, den Persern und einigen anderen immer wieder eingenommen, erobert und umkämpft. Doch trotz dieser ganzen Streitigkeiten haben die Juden durchgehalten.

„Im Jahr 63 vor Christus eroberte das Römische Kaiserreich die Region und machte aus ihr eine römische Provinz. Für fast zweihundert Jahre wurde sie zum Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen den Juden und den Römern, welche zu Zerstörung, Völkermord und ethnischer Säuberung von Minderheiten führte. Der letzte jüdische Aufstand gegen die Römer schlug im Jahre 132 nach Christus fehl und der Großteil der Juden wurde entweder umgebracht oder vertrieben – viele von ihnen flohen in das heutige Russland, nach Nordwesten nach Ost- oder Mitteleuropa, oder direkt nach Westen Richtung Marokko und Spanien. Manche flohen auch nach Osten nach Syrien, in den Irak oder in den Iran. Eine Handvoll sind sogar nach Afrika gegangen. Und manche sind in Israel geblieben.

„Mit der Zeit ging das Römische Kaiserreich unter und die Region wurde in der Mitte des siebten Jahrhunderts von den Arabern erobert, die erst kurz zuvor den Islam als Religion angenommen hatten. Trotz häufiger Angriffe durch christliche Kreuzritter blieb die Region die nächsten neunhundert Jahre über hauptsächlich unter der Herrschaft muslimischer Sultane. 1516 wurde sie erneut erobert, dieses Mal vom Ottomanischen Kaiserreich. Die Gegend, die wir heutzutage als Israel kennen, fand sich bereits im Jahre 1600 auf ottomanischen Karten als Palästina wieder. Als das Ottomanische Kaiserreich nach dem Ersten Weltkrieg unterging, geriet Palästina unter die Kontrolle der Engländer.“

„Was die Probleme verursachte, die noch heute dort herrschen“, fügte Ed hinzu.

Trudy nickte. „Allerdings. Im Laufe der Geschichte sind einige Juden dortgeblieben und über die Jahrhunderte hinweg gab es einige groß angelegte Versuche, Juden aus aller Welt zurück ins Heilige Land zu rufen. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert nahmen diese Versuche erneut Fahrt auf. Die Machtergreifung durch die Nazis führte dazu, dass mehr und mehr Juden Europa verließen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Bevölkerung Palästinas zu einem Drittel jüdisch. Als der Krieg vorbei war, kamen viele Juden, Überlebende des Holocaust, aus ihren zerstörten Gemeinden in Europa zurück nach Palästina.

„Im Jahr 1948 wurde schließlich der Staat Israel gegründet. Das brachte eine Reihe an gewaltsamen Konflikten zwischen Muslimen und Juden ins Rollen, die noch bis heute andauern. Am Anfang sind Ägypten, Syrien, der Jordan und der Irak eingefallen, zusammen mit Kontingenten aus dem Jemen, Marokko, Saudi-Arabien und dem Sudan. Die Israelis verteidigten sich jedoch erfolgreich. Mindestens siebenhunderttausend Araber sind geflohen oder wurden durch israelische Truppen in die Gebiete verdrängt, die heutzutage als Palästinensische Autonomiegebiete bekannt sind – das Westjordanland und der Gazastreifen.“

„Seht mal, hier ist der Teil, den ich nicht verstehe“, sagte Ed Newsam. „1948 ist eine Ewigkeit her. Es gibt all diese Palästinenser, die im Gazastreifen und im Westjordanland festsitzen. Warum gibt man ihnen nicht einfach ihre Freiheit und lässt sie ihr eigenes Land gründen? Oder wenn das nicht geht, warum gibt man ihnen nicht einfach die Staatsbürgerschaft und integriert sie in Israel? So wie ich das sehe, würden beide Möglichkeiten diesen ganzen Konflikt beenden.“

„Das ist kompliziert“, sagte Swann.

„Kompliziert ist noch milde ausgedrückt“, sagte Trudy. „Eher unmöglich. Zum einen wurde Israel als jüdischer Staat gegründet – ein Heimatland für Juden aus aller Welt. Dieses Projekt wurde bereits vor mehr als zweitausend Jahren ausgerufen.

„Wenn Israel ein jüdischer Staat bleiben möchte, kann es nicht einfach alle Palästinenser als Einwohner annehmen. Das würde eine demografische Zeitbombe starten, eine, die eher früher als später hochgehen würde. Israel hat ein universelles Wahlrecht – jeder Bürger darf wählen. Es gibt ungefähr sechseinhalb Millionen Juden in Israel und ungefähr zwei Millionen israelische Araber, deren Großteil Muslime sind. Im Gazastreifen und im Westjordanland gibt es ungefähr viereinhalb Millionen Palästinenser.

„Wenn die Palästinenser nun israelische Staatsbürger werden würden, hätte man auf einmal eine Gesellschaft, die zur Hälfte aus Juden und zur Hälfte aus Muslimen besteht, mit einer geringen Minderheit an Christen und anderen Religionen. Mit einem Schlag wären die Juden nicht mehr in der Mehrzahl. Außerdem ist die Geburtenrate bei israelischen Arabern und Palästinensern statistisch gesehen höher als bei israelischen Juden. In nur ein paar Jahrzehnten hätten die Muslime eine klare und ständig wachsende Mehrheit. Würden sie tatsächlich dafür wählen, dass Israel das Heimatland der Juden bleibt?“

„Unwahrscheinlich“, sagte Swann.

„Dann sollen sie den Palästinensern doch ihre Freiheit geben“, sagte Ed. „Lasst sie einen Staat ausrufen. Lasst sie die Straßen öffnen, ihren Luftraum und ihre Hoheitsgewässer kontrollieren und lasst sie mit anderen Ländern handeln.“

Trudy schüttelte ihren Kopf. „Das ist auch unmöglich. Ich mache ja nur selten absolute Aussagen, aber ich habe diese Szenarien schon aus jedem möglichen Winkel betrachtet. Egal, wer während internationaler Verhandlungen irgendetwas anderes behauptet, egal, wie oft die Generalversammlung der Vereinten Nationen Erklärungen abgibt, ein Palästinensischer Staat rückt niemals wesentlich näher. Israel wird es niemals freiwillig zulassen. Allein die Idee ist für sie absurd. Das wäre Selbstmord.

„Israel existiert in einem Umfeld verzweifelter Streitigkeiten mit den Ländern, die sie umgeben. Ihr Überleben steht ständig auf dem Spiel. Sicherheit ist das oberste Gebot in der israelischen Gesellschaft und der Hauptfokus des Staates. Israel ist ohnehin schon ein winziges Land. Wenn es das Westjordanland nicht als Puffer gäbe oder es sogar zu einem eigenen Staat werden würde, würde sich die Situation sofort unglaublich verschärfen. Es wäre untragbar. Die Küstenregion von Zentralisrael ist ein winzig dünner Streifen Land. Vom Westjordanland bis zum Meer sind es nur zwischen 14 und 17 Kilometer. Diese Distanz kann man mit dem Fahrrad in unter einer Stunde zurücklegen.

„Der Großteil der Zivilbevölkerung, sowie die großen Industrie- und Technologiegebiete des Landes befinden sich dort. Um die Sache noch schlimmer zu machen, besteht das Westjordanland aus Hügeln, die die umliegenden Täler überblicken. An manchen Orten des Westjordanlands kann man leicht bis zum Mittelmeer schauen. Immer wenn Extremisten aus arabischen Ländern davon reden, die Israelis ins Meer zu treiben, sollte man daran denken, dass der Weg tatsächlich nicht allzu weit wäre.

„Die Palästinenser sind mit dem Iran verbündet und viele Palästinenser stehen Israels Existenz feindlich gegenüber. Sollte Palästina zu einem eigenen Staat werden, was würde den Iran davon abhalten, Panzer, Kampfflugzeuge, Raketenstartrampen und Truppen an der Grenze aufzustellen? Nicht nur an der Grenze, sondern in den Hügeln, die eine perfekte Sicht auf Israels Hoheitsgebiet bieten? Das wäre ein Alptraumszenario. Außerdem ist das Westjordanland eine wichtige Wasserquelle für die Küste Israels. Ein souveränes Palästina könnte das Wasser einfach abdrehen.

„Als wäre das noch nicht genug, lautet die allgemeine Vermutung, dass Israel über fünfzig bis achtzig Atombomben verfügt, auch wenn sie ihr Nukleararsenal nicht öffentlich darlegen. Die meisten von ihnen befinden sich auf dem Raketenstützpunkt Sdot Micha südöstlich von Tel Aviv. Andere befinden sich in der südlichen Wüste. Wieder andere – vielleicht zwanzig oder sogar dreißig Prozent – befinden sich in Untergrundsilos im Westjordanland östlich von Jerusalem. Es handelt sich um Bomben aus den 1970ern und den 1980ern, die sehr wahrscheinlich noch einsatzbereit sind.

„Die Kosten, der logistische Aufwand und der öffentliche Aufschrei würden es nahezu unmöglich machen, diese Silos zurück nach Israel zu verlegen und es steht einfach außer Frage, dass Israel den Palästinensern erlauben würde, diese Waffen zu verwalten. Wie ich schon sagte, Israel erkennt noch nicht einmal öffentlich an, dass diese Atomwaffen existieren.“

„Was ist also dein Fazit?“, fragte Luke.

„Israel steht einer existenziellen Krise gegenüber, egal wie es vorangeht. Wenn sie den Palästinensern die Staatsangehörigkeit anerkennen, würde das grundlegende Konzept von Israel als Staat zerstört werden. Wenn sie das Westjordanland als eigenständigen Staat Palästina akzeptieren, würde Israel in Grund und Boden gebombt. Also verfolgen sie einen dritten Ansatz, einen gefährlichen Ansatz, der allerdings wenigstens geringe Erfolgschancen verspricht. Den Ansatz niemals endender Spannungen und Konflikte mit den Palästinensern, der Hisbollah, dem Iran und allen, die daran teilhaben wollen. Das mag extrem, unausgeglichen und sehr emotional wirken, aber in Wahrheit handelt es sich um eine einfache, dickköpfige, aber rationale Entscheidung. Um jeden Preis technologische Überlegenheit entwickeln und behalten, die gesamte Bevölkerung als Militär mobilisieren und niemals die Deckung sinken lassen, nicht mal für eine Sekunde.“

„Das funktioniert allerdings nur bei technologischer Überlegenheit“, gab Swann zu bedenken. „Wenn der Feind einmal aufholt …“

„Ja“, sagte Trudy. „Dann gibt es große Probleme. Und es sieht so aus, als hätte der Iran jetzt tatsächlich aufgeholt.“

„Ist das so?“, fragte Luke. „Verfügen sie wirklich über Atomwaffen?“

Trudy blickte ihn an. „Ja. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihre Behauptungen stimmen.“


* * *

Luke zog das Rollo herunter.

Er hatte hinaus in die Dunkelheit geblickt, bis er erkannt hatte, dass es irgendwann nichts mehr zu sehen gab auГџer sein eigenes, in Schatten getauchtes Gesicht.

Der Learjet flog Richtung Osten und wenn Luke hätte raten müssen, würde er sagen, dass sie sich über dem Nordatlantik befanden und Europa fast erreicht hatten – sie hatten bereits mehrere Stunden hinter sich, aber noch viele weitere vor sich. Es war ein weiter Weg.

Luke sah zu Trudy, die ihm gegenГјbersaГџ. Sie war die Einzige, die auГџer ihm noch wach war.

Hinter ihr hatte sich Swann auf zwei Sitzen ausgestreckt. Er war tief am Schlafen. In der Reihe hinter Swann tat es Ed Newsam ihm gleich. Ed war entspannt wie immer. Aber Luke machte sich Sorgen um Swann. Es war nicht seine Schuld – eine IS-Gefangenschaft würde jeden traumatisieren. Aber er hatte sich verändert. Er war nicht der gleiche witzige, sarkastische Idiot, der er einst gewesen war. Er war zurückhaltender, vorsichtiger. Er redete viel weniger. Oberflächlich schien das vielleicht wie eine gute Sache – er wirkte weise, oder reif. Aber Luke hatte die Vermutung, dass es eher mangelndes Selbstvertrauen war.

Swann hatte einiges mitmachen mГјssen. Wenn die Mission hart wГјrde, wenn der Stress anfing, an ihm zu knabbern, wГјrde es sich zeigen, wie gut er damit umgehen konnte.

Luke blickte erneut zu Trudy. Sie hatte bereits geschlafen, war jetzt aber wieder wach und starrte aus dem Fenster. Von hier aus konnte Luke nur ein blinkendes Licht auf dem FlugzeugflГјgel sehen.

„Ganz schön dunkel da draußen“, sagte er. „Ein großes, leeres Nichts.“

„Ja.“

„Was siehst du da?“

„Genau das. Nichts.“

Er schwieg einen Moment. Es war komisch, wieder hier mit ihr zu sein. Vermutlich wГјrde es immer ein wenig merkwГјrdig zwischen ihnen bleiben. Er wollte nicht Гјber ihre gemeinsame Vergangenheit reden, nicht jetzt, wo Swann und Ed hier waren. Swann und Ed ging die Sache nichts an und auГџerdem wollte er sie nicht aufwecken.

„Ich erinnere mich an den letzten langen Flug, den wir zusammen hatten“, sagte Luke.

Sie nickte. „Ich auch. Korea. Ihr hattet mich gerade aus dem Gefängnis befreit. Das war eine verrückte Zeit. Ich habe gedacht, mein Leben wäre vorbei. Ich hatte ja keine Ahnung, dass das erst der Anfang war.“

„Wie war deine Zeit auf der Flucht so?“

Sie zuckte mit den Schultern. Sie schien ihn nicht ansehen zu wollen. „Ich würde es nicht noch mal machen wollen. Aber insgesamt war es gar nicht so schlimm. Ich habe viel dazugelernt. Ich habe gelernt, nicht zu sehr an einer Identität zu hängen. Trudy Wellington, wer ist das schon? Nur eine von hunderten. Ich habe mein Haar blond gefärbt, so wie du vorgeschlagen hattest. Danach hatte ich schwarze Haare. Einmal habe ich mir sogar eine Glatze rasiert.

„Wusstest du, dass ich eine Zeit lang bei linken Protestanten in Spanien war? Ehrlich. Ich habe auf der Schule Spanisch gelernt und Spanien schien wie ein sicherer Ort, um dort unterzutauchen. Niemand hatte auch nur die geringste Ahnung, wer ich bin. Sie haben mich als Notfallsanitäter ausgebildet, also habe ich mitgemacht. Viele Menschen werden auf diesen Protesten verletzt – normalerweise Kleinigkeiten, aber Krankenwagen haben es schwer, bis zu ihnen vorzudringen. Ich war mitten drin in der Action. Hab ganz schön viele gebrochene Knochen und kaputte Schädel gesehen. Ich musste die ganze Zeit an Ed denken, während ich da war – ich hatte schon immer riesigen Respekt vor seinem medizinischen Wissen. Jetzt noch umso mehr.“

Jetzt drehte sie sich zu Luke um. „Ich habe einiges über mich selbst gelernt.“

„Zum Beispiel?“, fragte Luke.

Sie lächelte. „Ich habe gelernt, dass ich ältere Männer nicht nötig habe. Was hatte ich mir nur erhofft, Schutz? Bestätigung? Ich war ein dummes, kleines Mädchen. In den letzten Jahren habe ich mich an Männer in meinem Alter gehalten, oder sogar an jüngere, zur Abwechslung. Ich habe festgestellt, dass ich Männer bevorzuge, die nicht versuchen, mich zu bevormunden.“

Autsch. Luke musste lächeln, war aber auch sprachlos.

„Ich habe außerdem gelernt, dass ich eine Überlebenskünstlerin bin.“

„Das ist gut“, sagte er.

„Ja“, stimmte sie zu. „Aber nicht so gut wie die Sache mit den Männern.“




KAPITEL ZWГ–LF


13:45 Uhr Eastern Standard Time

Das Lagezentrum

Das WeiГџe Haus, Washington, D.C.



„Wie spät ist es dort?“, fragte Susan.

Kurt sah auf die Uhr. „Ungefähr viertel vor neun Uhr abends. Unser Gespräch ist für neun Uhr angesetzt.“

Susan nickte. „Okay. Fass die Sache noch einmal für mich zusammen.“

Sie blickte sich im Lagezentrum um. Es war voll wie immer. Kurt stand am Ende des länglichen Tisches. Haley Lawrence saß ebenfalls hier, zusammen mit einem sprichwörtlichen Meer aus Generälen und Admirälen, einige von ihnen weiblich, wie Susan positiv auffiel. Die Sitze an den Wänden waren voll mit Assistenten.

„Wir stehen vor einer Krise“, fing Kurt an. „Und wir müssen vorsichtig sein. Das ist das Wichtigste.“

Susan gestikulierte mit ihrer Hand, als wollte sie sagen Leg einen Zahn zu.

„Wie die meisten Anwesenden wissen, ist Israel seit seiner Gründung im Jahre 1948 ein wichtiger strategischer Partner für uns. In einer sich ständig verändernden Welt gibt es nur eine Handvoll anderer Länder – England, Kanada, Frankreich, Indien, Saudi-Arabien …“

Kurt wartete und verdrehte seine Augen, während ein paar der Anwesenden ihre Buh-Rufe loswurden.

„… Marokko, und ein paar weitere – die schon länger mit uns alliiert sind. Als relativ kleines Land in einer instabilen Region ist Israels Position äußerst dürftig und im Laufe der letzten Jahrzehnte sind die Spannungen immer wieder in offene Kämpfe ausgeartet. Am Anfang waren diese Konflikte das Resultat von Angriffen aus Nachbarländern wie Ägypten, dem Jordan oder Syrien. In der jüngsten Vergangenheit ist hauptsächlich der Palästina-Konflikt schuld. Die Palästinenser wurden vertrieben, als Israel gegründet wurde und sie leben heutzutage in einer Art politischen Schwebe im Westjordanland und im Gazastreifen, Gebiete, die Israel während des Sechstagekriegs im Jahr 1967 erobert hat. Jede internationale Einrichtung, genauer gesagt sogar jede Nation dieser Erde außer Israel selbst und den Vereinigten Staaten, betrachtet Israel als die Besatzungsmacht in diesen Gebieten.

„Islamistische Terrororganisationen nutzen diese Situation bereits seit zwei Generationen, um neue Mitglieder zu rekrutieren. Außerdem können islamische Staaten jederzeit Anti-Israelische Propaganda lostreten, solange die Palästinenser in der Schwebe hängen.“

„Wie stehen wir zu der ganzen Sache?“, fragte jemand, der an der hinteren Wand stand.

Kurt nickte. „Gute Frage. Lassen Sie es mich deutlich ausdrücken. Unsere offizielle Politik dazu lautet, dass wir andauernde Verhandlungen ermutigen. Das Ziel dieser Verhandlungen lautet, dass das Westjordanland und der Gazastreifen schlussendlich ein eigenständiges Land, wahrscheinlich namens Palästina, werden. Palästina und Israel sollen friedliche Beziehungen pflegen und vielleicht sogar zu regionalen Partnern werden. Bis dahin erkennen wir Israels Recht an, seine Grenzen zu schützen und Angriffe von Palästinensern auf die Bevölkerung Israels zu verhindern. Wir erkennen weder an, dass Israel sogenannte Siedlungen auf palästinensischem Gebiet errichtet, noch dass Jerusalem die Hauptstadt Israels ist. Wir betrachten sie als geteilte Stadt – die westliche Hälfte befindet sich in Israel, die östliche im Westjordanland.“

„Und Yonatan?“

Kurt blickte kurz auf einen Zettel, der vor ihm auf dem Tisch lag. „Yonatan Stern. Dreiundsechzig Jahre alt. Verheiratet, fünf Kinder, acht Enkel. Als junger Mann war er ein Kommando in der Eliteeinheit Sajeret Matkal der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte. 1976 war er einer der Anführer der erfolgreichen Rettungsaktion im Entebbe Flughafen in Uganda, bei dem israelische Kommandos mehr als einhundert Geiseln aus einem entführten Flugzeug retten konnten.

„Seitdem er aus dem Militär ausgetreten ist, hat er so gut wie sein gesamtes Leben in der Politik verbracht. Im Moment ist er der Vorsitzende einer unangreifbaren Mehrheit in der Knesset. Seine einzige Schwäche ist, dass er aktuell aufgrund von mindestens vier Verdachtsfällen von Korruption von der Polizei untersucht wird – unter anderem hat er angeblich Geschenke im Wert von hunderttausenden Dollar von reichen Förderern erhalten, unrechtmäßig militärische Regierungsaufträge vergeben und die israelische Telefon- und Internetindustrie für gewisse Freunde manipuliert.“

Kurt schüttelte seinen Kopf und stieß einen Pfiff aus. „Stern befindet sich in einer Bredouille. Seine rechtlichen Probleme haben ihn die letzten Monate über sehr beschäftigt. Er wird von Glück reden können, wenn er nicht verhaftet wird. Diplomatisch gesehen hat er es ebenfalls nicht leicht. Als er vor drei Wochen in Europa herumreiste, hat er auf einer Rede sein Mikrofon nicht ausgeschaltet. Er witzelte darüber, dass eine Zwei-Staaten-Lösung mit den Palästinensern unmöglich sei und dass die Europäische Union verrückt sei – ja, er hat ‚verrückt� gesagt – weil sie sich Sorgen um die Palästinenser machen. Sie können sich vorstellen, wie dieser kleine Witz in Europa und den Linken in Israel angekommen ist.“

Er sah Susan an. „Um es ganz deutlich auszudrücken: Yonatan Stern ist kein idealer Verbündeter. Aber ich denke, wir müssen uns auch klar darüber sein, dass er nicht sein Leben lang Premierminister bleiben wird und dass es äußerst viele Parteien in der israelischen Gesellschaft gibt, die eine friedvolle Lösung für ihre Probleme bevorzugen würden. Israel war und ist nach wie vor ein wichtiger Verbündeter der Vereinigten Staaten und ihre Zivilbevölkerung wird aktuell bedroht. Wir können momentan noch nicht abschätzen, wie umfangreich ein potenzieller Angriff sein wird. Doch wenn der Iran tatsächlich über Atomwaffen verfügt, wie sie behaupten, dann …“

Susan nickte. „Natürlich. Israel ist nicht mein Problem. Mir ist klar, dass unsere Beziehung mit ihnen weit über Yonatan hinausgeht.“




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